Ein
Kind muss her!
Der
arme reiche Bauer will nicht länger vor seinen Kumpel
dumm dastehen. Ein Kind muss her und sollt's ein Igel sein.
Und dann bekommt seine Frau das widerborstige Kind und keiner
will es haben.
Als der Krüppel mit seinem Dudelsack endlich den beschlagenen
Göckelhahn besteigt und fortzieht, ist der Vater erleichtert.
Der behinderte Hans Igel aber weiß genau, was ihm gut
tut, wie er heile werden kann. Konsequent geht er seinen Weg.
Doch selbst als er reich geworden ist, will sein
Vater ihn nicht anerkennen. Sein Glück findet Hans dennoch,
weil er sich immer treu bleibt und sich nicht mit Jammern
und Klagen aufhält. So erlöst er am Ende nicht nur
sich selbst sondern auch den alten Vater.
Der Igel
Ein Kind ist ein Kind, auch wenn es
ein Igel ist. "Da bekam seine Frau ein Kind, das war
oben ein Igel und unten ein Junge, und als sie das Kind sah,
erschrack sie und sprach: Siehst du, du hast uns verwünscht!"
Aber er ist doch nur zur Hälfte ein Igel! Andere Märcheneltern
bekommen Kinder, die ganz tierisch sind, Raben zum Beispiel.
Dieser hier ist ja nur zur Hälfte Tier. Ist vielleicht
gerade das so schwierig? Jedermann sieht, dass er "nicht
gelungen" ist. Und warum ausgerechnet ein Igel? Ein Igel
ist stachelig und widerborstig, also ungesellig, unsozial.
Er fügt sich nicht ein. Er igelt sich ein. Der Igel wird
gemocht, weil er sich nicht wehrt. Er leistet in schwierigen
Situationen keinen Widerstand. Er rollt sich ein und lässt
sich herumschubsen.
Der Igel ist ein (Un-) Gezieferfresser und deshalb mindestens
seit der Antike beim Menschen sehr beliebt. Entsprechend viele
Mythen und Volksweisheiten ranken sich um dieses Tier. Sie
beschreiben es teils als hilfreich, teils als gefährlich.
Verschiedene Teile des Igels wurden auch in der Volksmedizin
gegen allerlei Krankheit verwendet. Der Igel hat also eine
bestimmte Verbindung zu Mensch und Gesundheit.
Seiner Stacheln wegen ist der Igel bei alten Völkern
ein Sonnen- und damit Glückssymbol. Er ist friedfertig
und passiv. Weil er aber angeblich mit seinen Stacheln die
Weinrauben aus dem Weinberg trägt, ist er auch ein Symbol
des Teufels, der die Gläubigen verführt. Mit einer
Igelhaut auf einem Weinstock wollten sich die Römer schon
gegen Hagelschädel schützen.
Mutig kämpft der Igel aber auch gegen die Schlange und
vertilgt sie. So wird er zum Christussymbol. Ein stiller Einzelgänger
ist er, widerborstig aber friedfertig, ein Mönch, wäre
er nicht trotz seiner Stacheln recht vermehrungsfreudig.
Seiner schnell aufgerichteten Stacheln wegen ist er aber auch
als zornig verrufen. Weil er sich aus Zank und Streit fernhält,
gilt er trotzdem als herzensklug und menschenfreundlich. In
"Der Hase und der Igel" wird er gar zum schmunzelnden
Schlauberger und als Redaktionsigel der ersten deutschen Fernsehzeitschrift
hat er vor einem halben Jahrhundert Kinder- und Erwachsenenherzen
märchenhaft berührt und ist selbst dabei immer niedlicher
geworden. Bis zum Plüschtier hat er es geschafft.
Dieser hier aber sticht seine Umwelt, die ihn dafür ausschließt.
Ein Igel im Garten ist wohl willkommen, frisst er doch Schnecken,
Raupen und Käfer weg, die der Saat schaden. Ein Igel
im Haus bekommt Milch zu trinken und beschäftigt die
Kinder. Aber ein Igel als Sohn. Warum kann die Frau kein Kind
bekommen, reicher Bauer? Reicht es bei Dir nicht zum Zeugen?
Gibt es einfach keine Zeugen Deiner Potenz, Herr Bauer, Du?
Ach, wie peinlich, wie beschämend, wie zweifellos fruchtlos.
Ein Kind muss nun her, "und sollt's ein Igel seyn",
und dann ist es ein Igel, und was nun, Bauer? "Da bekam
seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein Junge."
Ach die brave Frau. Er will ein Kind, sei's ein Igel, und
sie bekommt ein Kind, und es ist ein Igel. Brave Frau? Weit
gefehlt. Als sie das Kind sieht, das sie geboren hat, zeigt
sie mit dem Finger auf ihren Ehemann: "Siehst du, du
hast uns verwünscht!" Diese Frau macht sich mitschuldig,
weil sie keine Verantwortung übernimmt. Sie ordnet sich
dem Mann unter. Der will ein Kind. Also bekommt sie eins.
Dann aber macht sie ihm Vorwürfe dafür. Dieses Muster
heißt Projektion."Unten" ist beim Jungen zunächst
ja nur mal sein "Pippihahn", also seine Geschlechtszugehörigkeit,
die ihn dem Vater zustellt. Dieser Igelsohn ist zu einem Teil
auch der Vater. Oben aber, wo sich zeigt, was zählt,
ist dieser bloß ein Igel, stachlig und widerborstig,
wozu er, just geboren, doch noch gar keinen Grunde hat
oder? Gibt es vielleicht Gründe für die Widerborstigkeit,
die pränatal, also vor dem Kind und ganz bei den Eltern
liegt? Eltern wollen davon nie gern hören. Für sie
ist es ja wohl auch schlimm genug, dass ihr Kind widerborstig,
igelig ist. Da wollen sie doch nicht noch reflektieren, dass
sie womöglich Anteil, wenn auch nicht körperlich,
so doch mental haben. Behinderung heißt ja zunächst,
gehindert sein. Schon eine körperliche oder geistige
Verzögerung oder Abweichung in der Entwicklung kann als
Behinderung angesehen werden. Aber diese Gesellschaft der
Äußerlichkeiten betrachtet als Behinderung, was
sichtbar anders und auffällig lästig erscheint.
Deshalb ist der Hans in diesem Märchen ein Igel. Seine
Behinderung ist offensichtlich.
Fortgehen heißt ankommen
Betrachten wir diese Abschiedsszene
genauer, um den folgenden Lebensweg dieses gesellschaftlichen
Außenseiters besser zu verstehen.
Wie alle Märchenkinder akzeptiert Hans seine Eltern (schlecht)
wie sie sind und verlässt frohgemut das Elternhaus, was
er ohnehin früher oder später tun muss. Und wie
alle Märchenkinder wird Hans von seinen Eltern für
seinen Lebensweg ausgestattet. Doch hier ist es keine liebevolle
Mutter, die dem jungen Burschen Wegzehrung in den Ranzen packt,
oder ein besorgter Vater, der ihm ein Erbstück, ein Geheimnis
oder einen magischen Gegenstand mit auf den Weg gibt.
Hätte dieser Vater seinen Sohn freiwillig für die
Suchwanderung ausgerüstet? Immerhin bringt er ihm den
gewünschten Dudelsack, ein Musikinstrument, dessen erster
Zweck darin bestand, Höllenlärm zu machen, um den
Feind in der Schlacht einzuschüchtern, das aber trotzdem
auch ein kreatives Instrument ist. Dieses Menschenkind will
auf sich aufmerksam machen: Seht her, hier bin ich, so wie
ich bin. Und ich, auch ich, will so geliebt werden, wie ich
bin.
Als Musikinstrument hat der Dudelsack eine weitere Funktion.
Er erlaubt dem Kind, sich kreativ auszudrücken und damit
womöglich Defizite im Ausdruck auf der sprachlich-rationalen
Ebene zu kompensieren. Der Dudelsack wird in diesem Zusammenhang
zum globalen Symbol für die Arbeit mit seelisch eingeengten,
reduzierten Kinder. Um ihnen zu helfen, um sie aus ihrer Opferrolle
zu befreien, müssen wir ihnen sehr genau zuhören,
sie wahrnehmen, erspüren. Und deshalb müssen wir
ihnen erlauben, sich Gehör, Be-Achtung zu verschaffen,
notfalls auch lauthals, und sich kreativ auszudrücken.
Der Gockel steht für Eitelkeit, also für Stolz,
dessen Berechtigung zweifelhaft ist. Dass der Hahn auch noch
beschlagen werden soll, verstärkt die Symbolik, denn
er wird damit zum bunten Pferdchen. Und das Pferd ist ein
stolzes Tier. Hans bringt damit zum Ausdruck, dass sein Stolz
geachtet, nicht gebrochen werden soll, selbst wenn er nur
auf einem Hahn reitet und etwas laut und bunt daher kommt.
Hans lässt sich auch nicht etwa verjagen oder verdrängen,
er hat einen klaren Lebensplan. Er will eine Herde hüten,
eine Betätigung, die wir ihm gerne zutrauen. Und dafür
"nimmt" er Schweine und Esel mit, als wäre
das selbstverständlich.
Schweine stehen für Schmutz und Esel für Dummheit.
Kinder werden gerne mit beiden Tierarten verglichen, um sie
in ihrem Sosein herabzuwürdigen. Hans zieht also mit
seinem Schmutz und seiner Dummheit fort, so können wir
schnell interpretieren, hinaus in den Wald, wo er so sein
kann, wie er ist.
Als vermutlich erstes Haustier wurde das Schwein in archaischer
Zeit in besonderem Maße kultisch verehrt. Es ist ein
Symbol für Fruchtbarkeit und Glück. Zu Neujahr sollte
man einen Schweinerüssel essen, um im kommenden Jahr
Glück zu haben, andere Teile des Schweins (Knochen, Hirn,
Schwanz) wurden als Glücksbringer in anderen Sparten
verwendet. Bis heute sagen wir: "Schwein gehabt";
wenn etwas gerade noch gut gegangen ist. Sogar in Fundamente
von Kirchen wurden einst Schweineköpfe eingemauert, um
das Böse abzuwehren, denn das Schwein gilt auch als Teufels-
und Hexentier. Mythologisch ist
die Sau ein Opfertier der (Großen Göttin) Demeter.
Erst mit dem Übergang zum Patriarchat wird die Symbolik
des Schweins verkehrt. Es gilt nun als unrein, suhlt es sich
doch im Dreck und frisst jeden Abfall, den man ihm vorwirft.
Es wird mit primitiver Sexualität (Schweinereien) assoziiert.
Jemanden Sau zu nennen, ist bis heute ein böses Schimpfwort.
Im Plattdeutschen Schimpfwort Swienegel (Schweineigel) für
eine unsauberen Menschen zeigt sich auch eine Verbindung von
Igel und Schwein.
Der Esel war in Indien und in der antiken Welt Symbol der
Geilheit und zum Teil auch des bösen Prinzips. Er ist
das schlechte Pferd, störrisch, dumm und
faul. Auf dem grauen Esel statt auf dem stolzen Pferd zu reiten,
bedeutet deshalb nicht nur Demut oder Demütigung, sondern
auch die Beherrschung der niederen Kräfte. In der christlichen
Symbolik wandelt sich der Esel gänzlich zum Symbol der
Hingabe, weil Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet.
Wir dürfen annehmen, dass Schwein und Esel in diesem
Märchen mit bedacht gewählt wurden und zumindest
ursprünglich auf die vitale Basis hinweisen sollten.
Eine behütete Herde vermehrt sich im (Ur-) Wald praktisch
von selbst und ernährt so ihren Hüter.
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