Felix von Bonin: Hans mein Igel
Band 11
Felix von Bonin
Hans mein Igel
Das behinderte Kind
Lasst mich doch einfach sein
  
96 Seiten
978-3-88755-241-1

EUR [D] 8,30

Ein Kind muss her!

Der arme reiche Bauer will nicht länger vor seinen Kumpel dumm dastehen. Ein Kind muss her und sollt's ein Igel sein. Und dann bekommt seine Frau das widerborstige Kind und keiner will es haben.
Als der Krüppel mit seinem Dudelsack endlich den beschlagenen Göckelhahn besteigt und fortzieht, ist der Vater erleichtert. Der behinderte Hans Igel aber weiß genau, was ihm gut tut, wie er heile werden kann. Konsequent geht er seinen Weg. Doch selbst als er ›reich‹ geworden ist, will sein Vater ihn nicht anerkennen. Sein Glück findet Hans dennoch, weil er sich immer treu bleibt und sich nicht mit Jammern und Klagen aufhält. So erlöst er am Ende nicht nur sich selbst sondern auch den alten Vater.

Der Igel

Ein Kind ist ein Kind, auch wenn es ein Igel ist. "Da bekam seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein Junge, und als sie das Kind sah, erschrack sie und sprach: ›Siehst du, du hast uns verwünscht!‹"
Aber er ist doch nur zur Hälfte ein Igel! Andere Märcheneltern bekommen Kinder, die ganz tierisch sind, Raben zum Beispiel. Dieser hier ist ja nur zur Hälfte Tier. Ist vielleicht gerade das so schwierig? Jedermann sieht, dass er "nicht gelungen" ist. Und warum ausgerechnet ein Igel? Ein Igel ist stachelig und widerborstig, also ungesellig, unsozial. Er fügt sich nicht ein. Er igelt sich ein. Der Igel wird gemocht, weil er sich nicht wehrt. Er leistet in schwierigen Situationen keinen Widerstand. Er rollt sich ein und lässt sich herumschubsen.
Der Igel ist ein (Un-) Gezieferfresser und deshalb mindestens seit der Antike beim Menschen sehr beliebt. Entsprechend viele Mythen und Volksweisheiten ranken sich um dieses Tier. Sie beschreiben es teils als hilfreich, teils als gefährlich. Verschiedene Teile des Igels wurden auch in der Volksmedizin gegen allerlei Krankheit verwendet. Der Igel hat also eine bestimmte Verbindung zu Mensch und Gesundheit.
Seiner Stacheln wegen ist der Igel bei alten Völkern ein Sonnen- und damit Glückssymbol. Er ist friedfertig und passiv. Weil er aber angeblich mit seinen Stacheln die Weinrauben aus dem Weinberg trägt, ist er auch ein Symbol des Teufels, der die Gläubigen verführt. Mit einer Igelhaut auf einem Weinstock wollten sich die Römer schon gegen Hagelschädel schützen.
Mutig kämpft der Igel aber auch gegen die Schlange und vertilgt sie. So wird er zum Christussymbol. Ein stiller Einzelgänger ist er, widerborstig aber friedfertig, ein Mönch, wäre er nicht – trotz seiner Stacheln – recht vermehrungsfreudig. Seiner schnell aufgerichteten Stacheln wegen ist er aber auch als zornig verrufen. Weil er sich aus Zank und Streit fernhält, gilt er trotzdem als herzensklug und menschenfreundlich. In "Der Hase und der Igel" wird er gar zum schmunzelnden Schlauberger und als Redaktionsigel der ersten deutschen Fernsehzeitschrift hat er vor einem halben Jahrhundert Kinder- und Erwachsenenherzen märchenhaft berührt und ist selbst dabei immer niedlicher geworden. Bis zum Plüschtier hat er es geschafft.
Dieser hier aber sticht seine Umwelt, die ihn dafür ausschließt. Ein Igel im Garten ist wohl willkommen, frisst er doch Schnecken, Raupen und Käfer weg, die der Saat schaden. Ein Igel im Haus bekommt Milch zu trinken und beschäftigt die Kinder. Aber ein Igel als Sohn. Warum kann die Frau kein Kind bekommen, reicher Bauer? Reicht es bei Dir nicht zum Zeugen? Gibt es einfach keine Zeugen Deiner Potenz, Herr Bauer, Du? Ach, wie peinlich, wie beschämend, wie zweifellos fruchtlos. Ein Kind muss nun her, "und sollt's ein Igel seyn", und dann ist es ein Igel, und was nun, Bauer? "Da bekam seine Frau ein Kind, das war oben ein Igel und unten ein Junge." Ach die brave Frau. Er will ein Kind, sei's ein Igel, und sie bekommt ein Kind, und es ist ein Igel. Brave Frau? Weit gefehlt. Als sie das Kind sieht, das sie geboren hat, zeigt sie mit dem Finger auf ihren Ehemann: "Siehst du, du hast uns verwünscht!" Diese Frau macht sich mitschuldig, weil sie keine Verantwortung übernimmt. Sie ordnet sich dem Mann unter. Der will ein Kind. Also bekommt sie eins. Dann aber macht sie ihm Vorwürfe dafür. Dieses Muster heißt Projektion."Unten" ist beim Jungen zunächst ja nur mal sein "Pippihahn", also seine Geschlechtszugehörigkeit, die ihn dem Vater zustellt. Dieser Igelsohn ist zu einem Teil auch der Vater. Oben aber, wo sich zeigt, was zählt, ist dieser bloß ein Igel, stachlig und widerborstig, wozu er, just geboren, doch noch gar keinen Grunde hat – oder? Gibt es vielleicht Gründe für die Widerborstigkeit, die pränatal, also vor dem Kind und ganz bei den Eltern liegt? Eltern wollen davon nie gern hören. Für sie ist es ja wohl auch schlimm genug, dass ihr Kind widerborstig, igelig ist. Da wollen sie doch nicht noch reflektieren, dass sie womöglich Anteil, wenn auch nicht körperlich, so doch mental haben. Behinderung heißt ja zunächst, gehindert sein. Schon eine körperliche oder geistige Verzögerung oder Abweichung in der Entwicklung kann als Behinderung angesehen werden. Aber diese Gesellschaft der Äußerlichkeiten betrachtet als Behinderung, was sichtbar anders und auffällig lästig erscheint. Deshalb ist der Hans in diesem Märchen ein Igel. Seine Behinderung ist offensichtlich.

Fortgehen heißt ankommen

Betrachten wir diese Abschiedsszene genauer, um den folgenden Lebensweg dieses gesellschaftlichen Außenseiters besser zu verstehen.
Wie alle Märchenkinder akzeptiert Hans seine Eltern (schlecht) wie sie sind und verlässt frohgemut das Elternhaus, was er ohnehin früher oder später tun muss. Und wie alle Märchenkinder wird Hans von seinen Eltern für seinen Lebensweg ausgestattet. Doch hier ist es keine liebevolle Mutter, die dem jungen Burschen Wegzehrung in den Ranzen packt, oder ein besorgter Vater, der ihm ein Erbstück, ein Geheimnis oder einen magischen Gegenstand mit auf den Weg gibt.
Hätte dieser Vater seinen Sohn freiwillig für die Suchwanderung ausgerüstet? Immerhin bringt er ihm den gewünschten Dudelsack, ein Musikinstrument, dessen erster Zweck darin bestand, Höllenlärm zu machen, um den Feind in der Schlacht einzuschüchtern, das aber trotzdem auch ein kreatives Instrument ist. Dieses Menschenkind will auf sich aufmerksam machen: Seht her, hier bin ich, so wie ich bin. Und ich, auch ich, will so geliebt werden, wie ich bin.
Als Musikinstrument hat der Dudelsack eine weitere Funktion. Er erlaubt dem Kind, sich kreativ auszudrücken und damit womöglich Defizite im Ausdruck auf der sprachlich-rationalen Ebene zu kompensieren. Der Dudelsack wird in diesem Zusammenhang zum globalen Symbol für die Arbeit mit seelisch eingeengten, reduzierten Kinder. Um ihnen zu helfen, um sie aus ihrer Opferrolle zu befreien, müssen wir ihnen sehr genau zuhören, sie wahrnehmen, erspüren. Und deshalb müssen wir ihnen erlauben, sich Gehör, Be-Achtung zu verschaffen, notfalls auch lauthals, und sich kreativ auszudrücken.
Der Gockel steht für Eitelkeit, also für Stolz, dessen Berechtigung zweifelhaft ist. Dass der Hahn auch noch beschlagen werden soll, verstärkt die Symbolik, denn er wird damit zum bunten Pferdchen. Und das Pferd ist ein stolzes Tier. Hans bringt damit zum Ausdruck, dass sein Stolz geachtet, nicht gebrochen werden soll, selbst wenn er nur auf einem Hahn reitet und etwas laut und bunt daher kommt.
Hans lässt sich auch nicht etwa verjagen oder verdrängen, er hat einen klaren Lebensplan. Er will eine Herde hüten, eine Betätigung, die wir ihm gerne zutrauen. Und dafür "nimmt" er Schweine und Esel mit, als wäre das selbstverständlich.
Schweine stehen für Schmutz und Esel für Dummheit. Kinder werden gerne mit beiden Tierarten verglichen, um sie in ihrem Sosein herabzuwürdigen. Hans zieht also mit seinem Schmutz und seiner Dummheit fort, so können wir schnell interpretieren, hinaus in den Wald, wo er so sein kann, wie er ist.
Als vermutlich erstes Haustier wurde das Schwein in archaischer Zeit in besonderem Maße kultisch verehrt. Es ist ein Symbol für Fruchtbarkeit und Glück. Zu Neujahr sollte man einen Schweinerüssel essen, um im kommenden Jahr Glück zu haben, andere Teile des Schweins (Knochen, Hirn, Schwanz) wurden als Glücksbringer in anderen Sparten verwendet. Bis heute sagen wir: "Schwein gehabt"; wenn etwas gerade noch gut gegangen ist. Sogar in Fundamente von Kirchen wurden einst Schweineköpfe eingemauert, um das Böse abzuwehren, denn das Schwein gilt auch als Teufels- und Hexentier. Mythologisch ist
die Sau ein Opfertier der (Großen Göttin) Demeter. Erst mit dem Übergang zum Patriarchat wird die Symbolik des Schweins verkehrt. Es gilt nun als unrein, suhlt es sich doch im Dreck und frisst jeden Abfall, den man ihm vorwirft. Es wird mit primitiver Sexualität (Schweinereien) assoziiert. Jemanden Sau zu nennen, ist bis heute ein böses Schimpfwort. Im Plattdeutschen Schimpfwort Swienegel (Schweineigel) für eine unsauberen Menschen zeigt sich auch eine Verbindung von Igel und Schwein.
Der Esel war in Indien und in der antiken Welt Symbol der Geilheit und zum Teil auch des bösen Prinzips. Er ist das ›schlechte Pferd‹, störrisch, dumm und faul. Auf dem grauen Esel statt auf dem stolzen Pferd zu reiten, bedeutet deshalb nicht nur Demut oder Demütigung, sondern auch die Beherrschung der niederen Kräfte. In der christlichen Symbolik wandelt sich der Esel gänzlich zum Symbol der Hingabe, weil Jesus auf einem Esel in Jerusalem einreitet.
Wir dürfen annehmen, dass Schwein und Esel in diesem Märchen mit bedacht gewählt wurden und zumindest ursprünglich auf die vitale Basis hinweisen sollten. Eine behütete Herde vermehrt sich im (Ur-) Wald praktisch von selbst und ernährt so ihren Hüter.