Schuldbeladen
Ein
Mann, Vater von 12 Söhnen, eröffnet seiner schwangeren
Frau, die Söhne sollen sterben, wenn sie eine Tochter
zur Welt bringt. Warum tut er das? Die Söhne fliehen
vor dem bedrohlichen Vater und die Tochter wächst schuldbeladen
auf. Was wird aus diesen Kindern? »Die zwölf Brüder«
zeigt einen Weg aus der verhängnisvollen Verstrickung
von Schuld und Sühne. Es zeigt, was Kinder einer zerrütteten
Ehe tragen müssen, es zeigt aber auch, dass Erlösung
möglich ist, wenn wir den langen Weg zu uns selbst gehen.
Wie finde ich Erlösung von zugewiesener Schuld?
Der mörderische
Vater
Was spielt sich in einem Menschen ab?
Wir wissen es nicht, nicht wirklich. Angst, Hass, Verzweiflung,
wie erlebt sie ein anderer Mensch? Wenn wir aufrichtig mit
uns selbst sind, können wir über das bloße
Erleiden hinaus bis zu einem gewissen Grad erkennen, was sich
bei diesen Gefühlen in uns selbst abspielt. Und daraus
können wir dann ahnungsweise nachvollziehen, was sich
in anderen wohl abspielen wird. Doch genau wissen werden wir
es nie. Selbst die Gefühle von Menschen, die uns sehr
nahe stehen, können wir nur erahnen. Was hat unsere Mutter,
was hat unser Vater wirklich gefühlt? Letztlich bleiben
sie uns fremd. Letztlich ist ein jeder in seiner fleischlichen
Hülle gefangen ganz allein.
Was geht in einem Mann vor, der zu seiner schwangeren Frau
spricht, er werde alle ihre Kinder, zwölf Jungen, umbringen,
wenn sie als dreizehntes ein Mädchen zur Welt bringt?
Der König in diesem Märchen tut genau das. Warum?
Was geht in ihm vor? Können wir es erahnen? "Die
zwölf Brüder" nennt uns einen Grund...
Ins Leben gestoßen
Was kommt auf die Kinder dieses Mannes
zu? Die Mutter kann sie vor ihrem gewalttätigen Vater
nicht schützen, also bleibt ihnen nur zu fliehen.
Auch an dieser Szene ist bemerkenswert, wie sie Wilhelm Grimm
systematisch publikumsgerecht verkitscht hat. Die Mutter sitzt
den ganzen Tag herum und trauert. Wir würden sagen, sie
ist deprimiert, und wenn es ein Hollywood-Film wäre,
würde sie vielleicht auch trinken. Der jüngste Sohn,
"den sie nach der Bibel Benjamin nannte", ist immer
mit ihr zusammen und fragt sie, warum sie so traurig sei.
Sie druckst herum, "ich darf dir's nicht sagen",
zeigt ihm aber schließlich doch die zwölf Särge
in der verschlossenen Kammer und enthüllt ausgerechnet
ihm, dem Jüngsten, die dunkle Absicht seines Vaters.
Sie weint, aber der tapfere kleine Kerl tröstet
sie. Da schmilzt doch jedes Mutterherz dahin. Das kleine Kind
schlägt vor, dass sie, die Brüder, fortgehen sollen,
und die Mutter stimmt ihm zu.
In der Erstausgabe hat der Jüngste keinen Namen, wie
es bei Märchen auch die Regel ist. Die Mutter hat ihn
am liebsten, weiht ihn von sich aus ein und trägt ihm
auf, zusammen mit seinen Brüdern fort in den Wald zu
gehen. In der ursprünglichen Handschrift heißt
es: "Da wurde die Königin gar traurig und hatte
ihre zwölf Söhne von Herzen gar lieb und ging zu
ihren zwölf Söhnen und sprach zu ihnen..."
und dann rät sie ihren Söhnen, in den Wald zu gehen.
Auch hier verstellen die buntgeklöppelten Bilder Wilhelm
Grimms nur die Sicht auf die eigentliche familiäre Tragödie.
Der bedrohliche Vater liebt weder Frau noch Kinder. Er ist
nur von seiner Selbstdarstellung getrieben und hat mit seiner
Rücksichtslosigkeit die Ehe zerrüttet. Das treibt
die Söhne aus dem Haus.
Zutreffend ist allerdings die hervorgehobene Stellung des
jüngsten Kindes. In zerrütteten Ehen muss nicht
selten ausgerechnet das jüngste, das schwächste
Kind, in absoluter Rollenüberforderung als Partnerersatz
herhalten, weil es den geringsten emotionalen Widerstand bietet.
Es ist also nicht unbedingt die große Liebe der Mutter,
sondern ihre Bedürftigkeit, die sich am Jüngsten
bedient.
Angesichts der Härte des Vaters weiß die Mutter
sich keinen anderen Rat, als die Söhne vom Vater zu trennen.
Hier schickt sie sie fort, um sie zu retten, aber die Trennung
kann auch nur auf rein emotionaler Ebene erfolgen. Die Mutter
stellt sich zwischen Vater und Söhne.
Gewöhnlich ist es die Aufgabe des Vaters, die Söhne
in die Welt hinauszuführen und auf das Leben vorzubereiten.
Er stattet sie mit seiner Erfahrung und seinem Wissen aus
und gibt ihnen eine solide Plattform für ihren Lebensweg.
Dieser destruktive Vater vertreibt seine Söhne aus dem
Haus, ohne ihnen eine Richtung ins Leben zu weisen.
Die Mutter, die ihre Kinder liebt, versucht zunächst
noch, Kontakt zu halten. Sie sollen aus sicherer Entfernung
von einem hohen Baum zum Schloss schauen, und sie will eine
Fahne aufstecken, wenn sie niedergekommen ist.
Bilder sozialen Elends drängen sich auf. Jugendliche,
die auf den Straßen herumlungern, weil sie zuhause nicht
klarkommen. Heranwachsende, die sich gegen ihren herrischen
und willkürlichen Vater auflehnen, und eine hilflose
Mutter, die sich kraftlos dazwischen wirft, um das Schlimmste
zu vermeiden. Junge Menschen, die viel zu früh das elterliche
Heim verlassen, weil sie es nicht mehr aushalten, und eine
verzweifelte Mutter, die versucht, den Kontakt aufrecht zu
halten und ihnen mühsam abgezweigtes Haushaltsgeld zusteckt.
Die zwölf Brüder verlassen also das Schloss und
kampieren in sicherer Entfernung. Hat der Vaterkönig
ihr Weggehen nicht bemerkt? Ist es ihm gleichgültig?
Warum lässt er sie nicht verfolgen und aufspüren?
Wie so oft in Märchen scheint das Schicksal der Alten
nicht wichtig. Vom Vater wird außer seiner drohenden
Ankündigung gar nichts berichtet und die Mutter verschwindet
auch von der Bildfläche, nachdem sie die Signalfahne
aufgesteckt hat. Offensichtlich geht es nur darum, die Familiensituation
zu skizzieren, aus der die Kinder hervorgehen...
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