Felix von Bonin: Das Mädchen ohne Hände
Band 10
Felix von Bonin
Das Mädchen ohne Hände
Das missbrauchte Kind
Der schmerzensreiche Weg
  
96 Seiten
978-3-88755-240-4

EUR [D] 8,30

Abgehauene Hände, auf den Rücken gebunden

Kann man Kindern das denn zumuten? Häschen-, Blümchen-, Tüdelüt-Geschichten. Kann man denn das Kindern zumuten? Missachtung. Misshandlung. Missbrauch. Das mutet man Kindern zu. Das Mädchen ohne Hände geht seinen Weg, mit seinem Kind »Schmerzensreich«. Doch Erlösung findet es nur durch einen Mann, der ihm wirklich zugetan ist und es wieder handlungsfähig macht.

Die abgehauenen Hände

Unerwartet tritt »ein alter Mann« heran, bietet ein Geschäft an. Reich will er den Armen machen, wenn er Gewalt über das ›Apfelbäumchen‹ bekommt, um ihm etwas anzutun. Als Kind habe ich gedacht, der Teufel wird den Apfelbaum fällen und fortschaffen, denn was nützt er ihm hinter des Müllers Haus. Und genau das tut der Alte ja, er hackt dem Mädchen ›die Hände‹ ab.
Halt, nein, der Teufel hackt dem Mädchen die Hände ja nicht selbst ab, er ›zwingt‹ den Mann, »seinem lieben Kind« die Hände abzuhauen. Weil der Vater eindeutig der Täter ist, müssen wir den Alten im Wald oder Teufel als seinen abgespaltenen Seelenanteil sehen. Der Teufel als Symbol für das Böse ist der Schatten des Vaters, der draußen im Wald über ihn kommt und ihn treibt, »seinem eigenen lieben Kind« die Hände abzuhauen.
Missbrauch ist Seelenmord. Die Seele wird entwurzelt wie ein junger Baum. Das Märchen beschreibt die Tat nicht. Was würde auch gewonnen? Diese Tat ist unbeschreiblich, weil die Folgen unbeschreiblich sind. Das Märchen findet das Symbol dafür: die abgehauen Hände.
Was heißt es, der Teufel wolle Gewalt über das Mädchen haben? Was soll er mit dem Mädchen anstellen? Und der alte Mann im Wald? Ja, vielleicht hat der Mann seine kleine Tochter einem alten Lüstling verhökert. Auch das, so wissen wir, ist noch heute Alltag – nicht nur anderswo. Nein, es schält sich eindeutig heraus, dass hier der eigene Vater nach der Unschuld der Tochter greift. Frühere Versionen dieses Stoffs sprechen direkt an, dass der Vater die Tochter begehrt, so wie in »Allerleirauh« (KHM 65), wo sich der lüsterne König auch eine Erklärung zurechtlegt, die ihn als in Not Handelnden darstellt.
Allerleirauh kommt besser davon als das Mädchen ohne Hände. Mit dem Rauhmäntelchen und der Rolle des Aschenputtels, das durch den Königssohn erhoben wird und darin Gerechtigkeit findet, ist Allerleirauh einfach gefälliger. »Rauh« und »Allerleirauh« sind auch beliebte Metaphern, wenn es um betroffene oder gefährdete kleine Mädchen geht.
Abgehauene Hände – das will man Kindern nicht zumuten. Solche Bilder sind der feinen und besorgten Kinderstube zu drastisch. »Das Mädchen ohne Hände« ist deshalb wenig bekannt.
Doch nicht nur das Märchen findet zu diesem ›unzumutbaren‹ Symbol der abgehackten Hände. Nach einem Missbrauch ist die kindliche Seele durch Schuldabsorption versiegelt. Ein so einfaches wie beliebtes Mittel ist, die Kinder malen zu lassen. Diese Form der Kommunikation wird erforscht, und so weiß man, dass sich missbrauchte Kinder oft ohne Hände darstellen.
Wie gehen wir um mit diesem Symbol? Warum abgehauene Hände? In den Märchen begegnen uns viele drastische Symbole. Dem Wolf wird der Bauch aufgeschnitten, die Hexe in den Backofen gestoßen, die Stiefmutter muss in glühenden Pantoffeln tanzen und so fort. Wenn sich das Drastische gegen die Bösen richtet, sind wir noch bereit, das hinzunehmen, aber der Protagonist, der Held (also das innere Kind, man selbst) darf nicht mit drastischen Bilder in Berührung kommen.
Dem Jungen in »Von dem Machandelboom« (KHM 47)* wird der Kopf abgehauen. Eine hochdeutsche Version des Märchens wird nicht verbreitet, das Märchen ist fast unbekannt.

*ausführliche Analyse in: Schamanismus und Märchen

Natürlich sitzt der Kopf am Ende der ›schamanischen‹ Reise, die das Märchen beschreibt, wieder auf dem Hals des Knaben, der nun initiiert ist und ganz nebenbei seine Familie erlöst hat.
Doch das wird leichtfüßig übergangen. Der abgehauene Kopf ist eben nicht zumutbar. Jedenfalls ist das die Perspektive immer besorgter Eltern. Sie sehen das spritzende Blut, die ganze Schweinerei, das Geschrei, die Panik, die Scherereien, die Nachbarn. Ein Kind sieht das alles nicht. Es sieht hier einen Rumpf und dort einen Kopf, abgetrennt wie ein Kohlkopf. Und so sieht es die Seele auch. Und wenn das Kind auf diesem Bildsymbol eine Phantasie entwickelt, dann wie es sich wohl anfühlt, da als Kopf herumzuliegen und der (leblose) Körper liegt dort, irgendwo anders. Waren sie schon einmal außer sich?
Genau darum geht es dem Märchen, diesen Zustand gefühlsmäßig zu vermitteln, im ›Kopf zu sein‹ und den Körper dort liegen zu sehen. Davon berichten auch Personen, die dem Tod sehr nahe waren, und andere, die wie und warum auch immer mit ihrem Bewusstsein außerhalb des Körpers waren.
Auch bei diesem Märchen geht es nicht um die Frage, wie das Mädchen mit dem Blutverlust an den Stümpfen umgeht und wie die großen Wunden medizinisch versorgt werden müssen. Es geht darum, der Seele zu vermitteln, wie man sich ohne Hände fühlt. Handlungsunfähig. Hilflos. Ausgeliefert. Und vor allem erniedrigt. Gedemütigt.
Niemand regt sich über abgehauene Hände in einem Kinofilm auf. Und wer kümmert sich darum, wenn das Kinder ansehen. Diese Hände hier werden nicht der Sensation wegen abgehauen, sie werden auch »gar nicht richtig« abgehauen. Sie werden bildlich abgehauen. Die abgehauenen Hände symbolisieren den seelischen Zustand eines missbrauchten Kindes. Gibt es ein Bild, das dafür zu drastisch wäre? Doch die vielen, die nicht verstehen, reagieren lieber hysterisch, als sich zu öffnen.
Vater. Mann. Gehe hin und hau deiner Tochter die Hände ab. Aber der liebe Vati redet sich ein, das wäre doch alles nicht so schlimm. Er hätte seine süße kleine Tochter doch ganz lieb. Nicht wahr, Vati?
Warum fragt dieses Märchen nicht danach, was einen Mann, was den Mann dahin bringt, eine solche Tat zu begehen. Nur weil es von Frauen erzählt wurde?
Ein betroffenes Kind wird sofort verstehen, was die abgehauenen Hände bedeuten. Es kennt das ja. Und darum geht es, dieses Erkennen. Das Kind fühlt an diesem Symbol, dass seine Lage verstanden wird. Seine Seele ist tief verletzt, deshalb ist es extrem misstrauisch. Es beißt sogar schnell in die Hand, die helfen will, wenn sie ungeschickt geführt wird.
Das Märchen schafft zunächst Vertrauen. Es will sich ja nicht nur über die männliche Tat verbreiten, es will einen Lösungsweg aufzeigen, eine hoffnungsvolle Vision zeichnen. Die abgehauenen Hände können wieder anwachsen. Aber es ist ein schmerzensreicher Weg für das Mädchen und ein Mann muss sich finden, der ›das Kreuz auf sich nimmt‹. Dann kann der alte Mann wiedergutmachen, was er angerichtet hat.