Abgehauene Hände, auf den Rücken
gebunden
Kann man Kindern das denn zumuten?
Häschen-, Blümchen-, Tüdelüt-Geschichten.
Kann man denn das Kindern zumuten? Missachtung. Misshandlung.
Missbrauch. Das mutet man Kindern zu. Das
Mädchen ohne Hände geht seinen Weg, mit seinem Kind
»Schmerzensreich«. Doch Erlösung findet es
nur durch einen Mann, der ihm wirklich zugetan ist und es
wieder handlungsfähig macht.
Die abgehauenen Hände
Unerwartet tritt »ein alter Mann«
heran, bietet ein Geschäft an. Reich will er den Armen
machen, wenn er Gewalt über das Apfelbäumchen
bekommt, um ihm etwas anzutun. Als Kind habe ich gedacht,
der Teufel wird den Apfelbaum fällen und fortschaffen,
denn was nützt er ihm hinter des Müllers Haus. Und
genau das tut der Alte ja, er hackt dem Mädchen die
Hände ab.
Halt, nein, der Teufel hackt dem Mädchen die Hände
ja nicht selbst ab, er zwingt den Mann, »seinem
lieben Kind« die Hände abzuhauen. Weil der Vater
eindeutig der Täter ist, müssen wir den Alten im
Wald oder Teufel als seinen abgespaltenen Seelenanteil sehen.
Der Teufel als Symbol für das Böse ist der Schatten
des Vaters, der draußen im Wald über ihn kommt
und ihn treibt, »seinem eigenen lieben Kind« die
Hände abzuhauen.
Missbrauch ist Seelenmord. Die Seele wird entwurzelt wie ein
junger Baum. Das Märchen beschreibt die Tat nicht. Was
würde auch gewonnen? Diese Tat ist unbeschreiblich, weil
die Folgen unbeschreiblich sind. Das Märchen findet das
Symbol dafür: die abgehauen Hände.
Was heißt es, der Teufel wolle Gewalt über das
Mädchen haben? Was soll er mit dem Mädchen anstellen?
Und der alte Mann im Wald? Ja, vielleicht hat der Mann seine
kleine Tochter einem alten Lüstling verhökert. Auch
das, so wissen wir, ist noch heute Alltag nicht nur
anderswo. Nein, es schält sich eindeutig heraus, dass
hier der eigene Vater nach der Unschuld der Tochter greift.
Frühere Versionen dieses Stoffs sprechen direkt an, dass
der Vater die Tochter begehrt, so wie in »Allerleirauh«
(KHM 65), wo sich der lüsterne König auch eine Erklärung
zurechtlegt, die ihn als in Not Handelnden darstellt.
Allerleirauh kommt besser davon als das Mädchen ohne
Hände. Mit dem Rauhmäntelchen und der Rolle des
Aschenputtels, das durch den Königssohn erhoben wird
und darin Gerechtigkeit findet, ist Allerleirauh einfach gefälliger.
»Rauh« und »Allerleirauh« sind auch
beliebte Metaphern, wenn es um betroffene oder gefährdete
kleine Mädchen geht.
Abgehauene Hände das will man Kindern nicht zumuten.
Solche Bilder sind der feinen und besorgten Kinderstube zu
drastisch. »Das Mädchen ohne Hände«
ist deshalb wenig bekannt.
Doch nicht nur das Märchen findet zu diesem unzumutbaren
Symbol der abgehackten Hände. Nach einem Missbrauch ist
die kindliche Seele durch Schuldabsorption versiegelt. Ein
so einfaches wie beliebtes Mittel ist, die Kinder malen zu
lassen. Diese Form der Kommunikation wird erforscht, und so
weiß man, dass sich missbrauchte Kinder oft ohne Hände
darstellen.
Wie gehen wir um mit diesem Symbol? Warum abgehauene Hände?
In den Märchen begegnen uns viele drastische Symbole.
Dem Wolf wird der Bauch aufgeschnitten, die Hexe in den Backofen
gestoßen, die Stiefmutter muss in glühenden Pantoffeln
tanzen und so fort. Wenn sich das Drastische gegen die Bösen
richtet, sind wir noch bereit, das hinzunehmen, aber der Protagonist,
der Held (also das innere Kind, man selbst) darf nicht mit
drastischen Bilder in Berührung kommen.
Dem Jungen in »Von dem Machandelboom« (KHM 47)*
wird der Kopf abgehauen. Eine hochdeutsche Version des Märchens
wird nicht verbreitet, das Märchen ist fast unbekannt.
*ausführliche Analyse in:
Schamanismus und Märchen
Natürlich sitzt der Kopf am Ende der schamanischen
Reise, die das Märchen beschreibt, wieder auf dem Hals
des Knaben, der nun initiiert ist und ganz nebenbei seine
Familie erlöst hat.
Doch das wird leichtfüßig übergangen. Der
abgehauene Kopf ist eben nicht zumutbar. Jedenfalls ist das
die Perspektive immer besorgter Eltern. Sie sehen das spritzende
Blut, die ganze Schweinerei, das Geschrei, die Panik, die
Scherereien, die Nachbarn. Ein Kind sieht das alles nicht.
Es sieht hier einen Rumpf und dort einen Kopf, abgetrennt
wie ein Kohlkopf. Und so sieht es die Seele auch. Und wenn
das Kind auf diesem Bildsymbol eine Phantasie entwickelt,
dann wie es sich wohl anfühlt, da als Kopf herumzuliegen
und der (leblose) Körper liegt dort, irgendwo anders.
Waren sie schon einmal außer sich?
Genau darum geht es dem Märchen, diesen Zustand gefühlsmäßig
zu vermitteln, im Kopf zu sein und den Körper
dort liegen zu sehen. Davon berichten auch Personen, die dem
Tod sehr nahe waren, und andere, die wie und warum auch immer
mit ihrem Bewusstsein außerhalb des Körpers waren.
Auch bei diesem Märchen geht es nicht um die Frage, wie
das Mädchen mit dem Blutverlust an den Stümpfen
umgeht und wie die großen Wunden medizinisch versorgt
werden müssen. Es geht darum, der Seele zu vermitteln,
wie man sich ohne Hände fühlt. Handlungsunfähig.
Hilflos. Ausgeliefert. Und vor allem erniedrigt. Gedemütigt.
Niemand regt sich über abgehauene Hände in einem
Kinofilm auf. Und wer kümmert sich darum, wenn das Kinder
ansehen. Diese Hände hier werden nicht der Sensation
wegen abgehauen, sie werden auch »gar nicht richtig«
abgehauen. Sie werden bildlich abgehauen. Die abgehauenen
Hände symbolisieren den seelischen Zustand eines missbrauchten
Kindes. Gibt es ein Bild, das dafür zu drastisch wäre?
Doch die vielen, die nicht verstehen, reagieren lieber hysterisch,
als sich zu öffnen.
Vater. Mann. Gehe hin und hau deiner Tochter die Hände
ab. Aber der liebe Vati redet sich ein, das wäre doch
alles nicht so schlimm. Er hätte seine süße
kleine Tochter doch ganz lieb. Nicht wahr, Vati?
Warum fragt dieses Märchen nicht danach, was einen Mann,
was den Mann dahin bringt, eine solche Tat zu begehen. Nur
weil es von Frauen erzählt wurde?
Ein betroffenes Kind wird sofort verstehen, was die abgehauenen
Hände bedeuten. Es kennt das ja. Und darum geht es, dieses
Erkennen. Das Kind fühlt an diesem Symbol, dass seine
Lage verstanden wird. Seine Seele ist tief verletzt, deshalb
ist es extrem misstrauisch. Es beißt sogar schnell in
die Hand, die helfen will, wenn sie ungeschickt geführt
wird.
Das Märchen schafft zunächst Vertrauen. Es will
sich ja nicht nur über die männliche Tat verbreiten,
es will einen Lösungsweg aufzeigen, eine hoffnungsvolle
Vision zeichnen. Die abgehauenen Hände können wieder
anwachsen. Aber es ist ein schmerzensreicher Weg für
das Mädchen und ein Mann muss sich finden, der das
Kreuz auf sich nimmt. Dann kann der alte Mann wiedergutmachen,
was er angerichtet hat.
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