Felix von Bonin: Von dem Fischer und seiner Frau
Band 9
Felix von Bonin
Von dem Fischer und seiner Frau
Unerfüllte Beziehung
Die Wiederherstellung des Glücks
  
96 Seiten
978-3-88755-239-8

EUR [D] 8,30

Was für ein Eheleben

Der Fischer sitzt eintönig am Meer und angelt, und seine Frau hockt zuhause in ihrer erbärmlichen Hütte, die sie »Pisspott« nennt. Mit markanten Strichen zeichnet dieses Märchen die Situation eines beziehungslosen Paars, die uns auch heute nicht fremd ist.
Aber dann tritt das unerwartete Ereignis ein: Der Fischer zieht einen sprechenden Butt aus den Tiefen seines Seelenmeers, wirft ihn aber schnell wieder rein. Doch seine Frau, die Ilsebill, will nicht so, wie er wohl will. Und damit kommt die Sache ins Rollen. Ilsebill entwickelt immer maßlosere Wünsche, die Natur bäumt sich auf und der Mann wird zur lächerlichen Figur. Auch das alles ist uns heute nicht so fremd. Bleibt die Frage: Wie kann das Glück in dieser verfahrenen Beziehung wiederhergestellt werden?

Der Fischer

Die Dramaturgie dieser Mär werden wir noch genau zu betrachten haben, um ihr auf die Schliche zu kommen, doch schauen wir uns zunächst den männlichen Hauptdarsteller an. Auf der Besetzungsliste erscheint er als "der Fischer". Mit seiner Frau zusammen wohnt er in einem "Pisspott" nahe der See. Was für eine Arbeitsanweisung an den Bühnenbildner!
Der Fischer angelt, wird erzählt. Eigentlich erwarten wir doch von einem Fischer, dass er mit dem Boot aufs Meer fährt, Netze auswirft und fischt oder zumindest Reusen aufstellt. Dieser hier angelt nur. Er ist also eigentlich gar kein Fischer, sondern ein Angler.
"Die See" ist synonym für Meer. Um im Meer angeln zu können, muss man ein gutes Stück hinauswaten, mit hohen Stiefeln tief im Wasser stehen und die Angel weit auswerfen. Von diesem Fischer heißt es jedoch, er sitze, dass er bei der Angel sitze. Er hält also die Angel nicht einmal in Händen, sondern hat sie irgendwie, irgendworan befestigt, sich selbst überlassen, während er daneben sitzt. Wo das Meer flach anstrandet, kann er nur auf einem Steg sitzen, der recht lang sein muss, um in genügend tiefes Wasser zu reichen, oder er sitzt auf einer Klippe steil über dem Meer. Regisseur und Bühnenbildner werden das zu klären haben.
Dass schon diese erste Szene so absurd und irrational erscheint, zeigt zumindest, dass es dem Märchen nicht darauf ankommt, ein realistisches Bild zu entwerfen, sondern eine Stimmung, eine emotionale Befindlichkeit in Szene zu setzen. Dort ist die See, das Meer, mächtig, weit, tosend, tiefgründig, voller Schätze und Geheimnisse. Der Urgrund des Lebens. Und hier sitzt der Fischer, tatsächlich nur ein Angler, tatenlos. Er hat nicht einmal seine Angel im Griff.
Jeden Tag geht er ans Meer angeln, unser Fischer. Jeden Tag. "Und er angelte und angelte." Mit dieser einfachen Wiederholung gelingt es Wilhelm Busch in der Fassung letzter Hand, die ganze Eintönigkeit dieses Tuns vor unserem geistigen Auge entstehen zu lassen. Wir sehen geradezu das ewige Rollen der See, riechen den Wind und hören die Schreie der Möwen. Und der Fischer angelt und angelt. Die Erstausgabe berichtet hingegen, er sei lange Zeit so jeden Tag zum Angeln gegangen.
Was geht in diesem Mann vor? Früh morgens geht er aus dem Haus, dem Pisspott, geht vermutlich den immer gleichen Weg zum Meer, an ›seine Stelle‹, stellt auf die immer gleiche Art seine Angel auf und sitzt daneben seine Zeit ab, gelegentlich unterbrochen durch das Einholen eines gefangenen Fisches. Die langatmige Gemächlichkeit dieser ersten Szene unterstreicht die Einförmigkeit und Leere im Leben des Fischers. Wie viele ›Fischer‹ gehen so Tag für Tag an ihre Arbeit, eine lange Zeit?
Der Fischer sitzt den ganzen Tag am Meer bei seiner Angel und wartet, dass ein Fisch anbeißt. Und während er wartet, schaut er "immer in das klare Wasser hinein: und er saß und saß."
Am Abend wird er seine Angel einholen und mit seinem Fang nach Hause, in den Pisspott gehen. Wenn es gut geht, wird er ein paar Fische gefangen haben, gerade genug, um sich und seine Frau recht und schlecht zu ernähren. Für mehr reicht es nicht. Und die ganze eingeschliffene Monotonie erweckt auch nicht den Eindruck, der Fischer wolle, könne irgendetwas an dieser Situation ändern.
Tagein, tagaus sitzt er am Meer bei seiner Angel und schaut in das klare Wasser. Was geht dabei in ihm vor? Wo sind seine Gedanken? Wir wissen es nicht, doch...

Der Pisspott

Eine amüsante Arabeske, dieser Pisspott. Zu Grimms Zeiten war er offensichtlich tragbar, zumindest in einem plattdeutschen Text. Bis in die Ausgabe letzter Hand hat er sich gehalten. Doch die Mickymausierung der Märchen hat mit Wilhelm Grimm ihr Ende nicht gefunden. In einer weit verbreiteten neueren Übertragung ins Hochdeutsche ist der Pisspott verschwunden, verniedlicht zu einem "alten Topfe", wo er doch zumindest als Nachttopf hätte übersetzt werden sollen. Das lässt ahnen, was aus den Märchen geworden wäre, hätte sie solcher Geist durchgehend bearbeitet.
Nun, in einem Pisspott kann niemand wohnen, auch ein Fischer und seine Frau nicht. Auch in einem alten Topfe können sie natürlich nicht wirklich wohnen. Wieso findet das Märchen zu diesem Ausdruck?
Die Sprache der Märchen – das ist die Sprache der Seele –, ist einfach, direkt und ausdrucksstark. Da werden eindringliche Szenen gezeichnet und deftige Bilder zitiert. Der Pisspott ist ein markantes Beispiel dafür. Manche mütterliche Mutter mag das erschrecken.
Das Wort "pissen" ist lautmalerischen Ursprungs, also ganz unmittelbar. Man hört und sieht geradezu den Urin auf eine Art spritzen, die dem biederen Bürger natürlich nicht zumutbar ist. Bis ins letzte Jahrhundert war Französisch die Geheimsprache der Herrschaft, die von ihren Lakaien nicht verstanden werden sollte. Deshalb galt Französisch als fein und deshalb hat sich das Pissen im Pissoir auch recht lange gehalten. Doch heute ist das Wort aus dem anständigen Wortschatz gänzlich verschwunden. Nur in bedürftigen Kreisen hört man es noch, zum Beispiel als "verpiss dich" oder "piss dir nicht ins Hemd".
Sprache verändert sich; Wörter changieren ihre Bedeutung. Heute ist eine Dirne auch keine junge Frau mehr. Machen wir also aus dem anekelnden Pisspott einen sozial-korrekten alten Topf? Ich meine nein, weil der asoziale Beiklang einfach trefflich ist.
Ein armer Fischer in einem anderen Märchen hätte mit seiner Frau vermutlich in einer Hütte, einer Kate gewohnt. Kate ist die neuere Form von Kote, womit ursprünglich wohl eine mit Flechtwerk abgedeckte Höhle oder ein Erdloch gemeint war. Das Wort Kot bedeutet Schmutz, Dreck, wie heute noch in Kotflügel. Eine Kote wäre dann so etwas wie ein Dreckloch. Und genau das ist heute die umgangssprachliche Bezeichnung für eine ärmliche Behausung.
Der Katen ist das plattdeutsche Wort für Tagelöhnerwohnungen, das waren kleine Häuser mit ein, zwei oder drei Wohnungen, die entsprechend als Ein-, Twei oder Dreipott bezeichnet wurden. Und da sind wir ganz nahe beim Pisspott, der in diesem Märchen als Metapher eine Behausung, ein Dreckloch beschreibt, das noch ärmlicher und schäbiger ist, als der kleinste und schäbigste Katen.
Die Metapher "Pisspott" ist an dieser Stelle unbedingt das treffende Wort. Doch nicht nur das, sie gibt auch ein Beispiel von der Ursprünglichkeit und sprachlichen Kraft der Märchen, die einer Erlebnisintensivität bildhaften Ausdruck gibt, die weit über den verengten Erfahrungsraum des ›modernen‹ Stadtbürgers hinausgeht. Es ist billig, schnell die Nase zu rümpfen und sich im Missverstehen behaglich einzurichten. Und es ist lohnend, den Wörtern und Bildern im Märchen auf den Grund zu gehen. Dabei kann man manchen dicken Fisch an Land ziehen und vielleicht ist auch mal ein verwunschener Prinz dabei...