Felix von Bonin: Schneewitchen
Band 4
Felix von Bonin
Schneewitchen
Rivalinnen
Die Mutter zum Feind
  
96 Seiten
978-3-88755-234-3

EUR [D] 8,30

So weiß wie Schnee,
so rot wie Blut
und so schwarz wie Ebenholz

Ist das nur so dahingesagt, oder bedeuten die Dinge und Farben etwas: Schwarz-Weiß-Rot? Die Mutter, die diese magische Formel vor der Geburt sprach, ›stirbt‹ und die ›andere‹ Mutter trachtet dem Mädchen, als es heranwächst, nach dem Leben.
Es gibt eine Rivalität zwischen Mutter und Tochter.
Was bedeutet das für die Entwicklung der Tochter? Und wie kann die Mutter konstruktiv damit umgehen? Unterwirft sich die Mutter Körperkult und Jugendwahn und orientiert sich nur am Spiegelschein der Äußerlichkeit, wird sie sich am Ende in ›glühenden Pantoffeln‹ zu Tode tanzen.

Die große Lüge

Eine Königin näht. Ist das absonderlich? Sicher entspricht es nicht unserer erwachsenen Vorstellung von royalem Leben, doch für das kindliche Gemüt ist es selbstverständlich, weil die Mutter in seiner Vorstellung Königin ist.
Eine Frau steht am Fenster. Es ist »mitten im Winter«, und wenn die Schneeflocken »wie Federn vom Himmel« fallen, dürfen wir getrost an Frau Holle, Hulda, die Große Mutter denken.
Der Winter ist die mythische Zeit. Es liegt in der Natur des Lebens, dass wir im hochsommerlichen Überschwang nicht daran denken, dass dem Einatmen ein Ausatmen folgen wird, folgen muss. Wenn aber im Herbst die Blätter fallen, wird der Mensch nachdenklich. Und im Winter sieht er der Rückseite des Lebens ins kristallschöne Gesicht.
Unsere Gesellschaft hat den Kontakt zum Winter und mit ihm den Kontakt zum Tod verloren. Wir verheizen ihn in unseren Zentralheizungen und lassen uns Erdbeeren vom anderen Ende der Welt in den Mund fliegen. Ist das Wohlstand? Ist das Luxus? Vielleicht.
Wir haben aber auch den spirituellen Kontakt zum Tod verloren. Immer mehr Menschen hauchen ihren Geist in klinischen Sterbezimmern aus, ohne selbst jemals zuvor einen toten Körper gesehen zu haben. Wir haben den Tod aus unserem Leben ausgeschlossen; er findet nur noch im Fernsehen statt. Warum auch nicht?
Wir übersehen wohl gern dabei, dass es ohne Tod kein Leben geben kann. Wer naturnah lebt, weiß nicht nur, sondern fühlt auch, dass im Schoß des toten Winters die Knospen heranwachsen, die den nächsten Frühling aufbrechen lassen, wenn die Zeit für einen neuen Zyklus reif ist. Frühere Generationen lebten inniger mit und in der Natur. Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass die nähende Königin Gedanken an ein Kind hegt, wenn sie sich in die Stille der tanzenden Schneeflocken hineinträumt. Sie ist erfüllt von der Verbindung zur Großen Mutter und ihrer Energie, die im Tode gebiert und im Leben verzehrt.
Ergriffen von diesem kosmischen Schauspiel und vielleicht auch in Trance durch das Gefühl des Eingebettet-Seins sticht sich die Königin in den Finger. Es fallen drei Tropfen Blut in den Schnee. Ist die genaue Zahl Zufall?
Der moderne Geist, der stets verneint, fragt sich sogleich: Wo ist da Schnee, in den das Blut vom Finger tropfen kann? Hat Frau Königin Schnee in der Stube? Oder liegt sie im tiefen Winter im offenen Fenster und hält ihre Handarbeit ins Freie hinaus, damit das Blut in den Schnee tropfen kann?
So erkennt der rationale Geist, dass ihm hier nur Märchen erzählt werden, die ihm Synonym für Lügengeschichten sind. Symbole sind ihm suspekt, soweit sie über semiotische Begrifflichkeiten hinausgehen und auf Erlebniswelten jenseits der Physik verweisen.
Die Nadel, der Stich, das Blut und die Drei spielen in der Ouvertüre dieses Märchens die symbolische Symphonie spiritueller Sexualität: körperliche Liebe als die hohe Zeit der Schöpfung neuen Lebens. Darauf zielt besonders die Drei. Aus Eins und Eins wird Drei. Das ist das Wunder, das mystische Geheimnis des Lebens.
Und um die zarte Anspielung auch gleich in die rechte spirituelle Bahn zu lenken, wird die Drei noch einmal und mit doppeltem Boden aufgegriffen: das Ebenholz, das Blut, der Schnee. Die eine Ebene dieses Bildes sind die Materialien, die andere ihre Farben.
Holz ist die Stofflichkeit des Baums. Im mystischen Sinn ist es die prima materia, aus der alle Dinge geformt werden. Wenn es zum Beispiel im Taittrirya Brahmana heißt: »Brahman war das Holz; Brahman war der Baum, aus dem Himmel und Erde gestaltet wurden«, dann steht das leblose Holz dem belebten Baum gegenüber. Holz und Baum bilden als Tod und Leben den Kreislauf der Schöpfung. Das entspricht auch der schamanischen Vorstellung vom Weltenbaum, der in Wurzel, Stamm und Krone Unterwelt, Menschenwelt und Oberwelt vereint. In der chinesischen Symbolik ist Holz eines der acht Elemente und steht unter Anderem für den Frühling, also den Lebenskeim, das neues Leben Hervorbringende, das grüne Holz.
Ebenholz ist etwas Besonderes. Es ist wertvoll, weil es von weit her, aus den Tropen herangeschafft werden muss. Es ist das Holz der Dattelpflaume und wird bereits im Alten Testament und in zahlreichen Schriften der griechischen und römischen Antike erwähnt. In der antiken Medizin wurde es auch als Arzneimittel verwendet, zum Beispiel gegen Rheuma und Gicht.
Hier muss es auch seiner schwarzen Färbung wegen Ebenholz sein, denn Schwarz bildet mit den Farben der beiden anderen Materialien einen bedeutenden Dreiklang.
Blut ist Leben. Mit dem Blut verliert der Körper seine Lebenskraft. Frisches oder junges Blut hat verjüngende Kraft. Blutsbande sind es auch, die Mitglieder einer Familie verbinden.
Holz ist physisch, fest, männlich. Blut fließt, muss fließen, um Leben zu erhalten oder Tod zu bringen. Mit Blut auch verschreibt man dem Teufel seine Seele. Das zeigt, dass die Seele dem Blut innewohnt. Die Qualität des Bluts bedeutet das Wesen eines Menschen, zum Beispiel wenn er blaues Blut hat oder kaltblütig ist.
Blut ist seelisch, ist fließend, weiblich. Weil es mit dem Herzen verbunden ist, steht es auch in enger Verbindung zu Liebe und Sexualität. Im Märchen sind die drei Blutstropfen deshalb Symbol sexueller Reife, der Defloration und der Empfängnis.
Blut ist rot. Rot ist das zum Leben erweckte Schwarz. Rot ist die Vitalität, Aggressivität, Energie, Leidenschaft und Erregung. Als Abbild des Feuers und Gegenbild zu Schwarz wurde Rot zur Farbe des kraftvollen männlichen Lebens und des Rechts. Die höchsten Richter tragen rote Roben.
Rot ist auch die Farbe der magischen Welt. Als Wodan zu Satan christianisiert wurde, erbte der die rote Farbe. Rot-Weiß symbolisiert den Urgegensatz männlich-weiblich. Beide vereint bedeuten den irdischen, körperlichen, triebhaften Aspekt der Liebe und den geistigen, mystischen, sehnsüchtigen im kosmischen Einklang, in der Unio mystica.
Der Schnee ist weiß. Schnee ist geronnenes, erstarrtes, zur geometrischen Ruhe gekommenes Wasser. Wenn sich die Lebenswärme zurückzieht, bleibt der abstrakte Geist, die Struktur und Intelligenz zurück. Schneekristalle zeigen uns das: die perfekte, reine Ordnung, aber auch die unendliche Variationsvielfalt.
Wenn die Große Mutter, Frau Holle, die Betten (aus denen sich das Leben wühlt) aufschüttelt, dann fallen männlich, kalte, intelligente Schneeflocken vom Himmel, um erwärmt als Wassertropfen die weibliche, warme, gefühlvolle Erde zu befruchten.
Schnee ist transzendentes Leben, der Same, die Idee, aus dem die individuelle Fülle der Formen und Wesen entsteht. Seine weiße Farbe bedeutet Reinheit und spirituelle Höhe. Weiß ist das geklärte, erhöhte, absolute Leben.
Die Wahl der drei Attribute »so weiß wie der Schnee, so roth wie das Blut, und so schwarz wie Ebenholz« ist also keineswegs beliebig. In dieser Auswahl steckt eine tiefe Wahrheit und Bedeutung.