So
weiß wie Schnee,
so rot wie Blut
und so schwarz wie Ebenholz
Ist das nur so dahingesagt, oder bedeuten die Dinge und Farben
etwas: Schwarz-Weiß-Rot? Die Mutter, die diese magische
Formel vor der Geburt sprach, stirbt und die andere
Mutter trachtet dem Mädchen, als es heranwächst,
nach dem Leben.
Es gibt eine Rivalität zwischen Mutter und Tochter.
Was bedeutet das für die Entwicklung der Tochter? Und
wie kann die Mutter konstruktiv damit umgehen? Unterwirft
sich die Mutter Körperkult und Jugendwahn und orientiert
sich nur am Spiegelschein der Äußerlichkeit, wird
sie sich am Ende in glühenden Pantoffeln
zu Tode tanzen.
Die große Lüge
Eine Königin näht. Ist das
absonderlich? Sicher entspricht es nicht unserer erwachsenen
Vorstellung von royalem Leben, doch für das kindliche
Gemüt ist es selbstverständlich, weil die Mutter
in seiner Vorstellung Königin ist.
Eine Frau steht am Fenster. Es ist »mitten im Winter«,
und wenn die Schneeflocken »wie Federn vom Himmel«
fallen, dürfen wir getrost an Frau Holle, Hulda, die
Große Mutter denken.
Der Winter ist die mythische Zeit. Es liegt in der Natur des
Lebens, dass wir im hochsommerlichen Überschwang nicht
daran denken, dass dem Einatmen ein Ausatmen folgen wird,
folgen muss. Wenn aber im Herbst die Blätter fallen,
wird der Mensch nachdenklich. Und im Winter sieht er der Rückseite
des Lebens ins kristallschöne Gesicht.
Unsere Gesellschaft hat den Kontakt zum Winter und mit ihm
den Kontakt zum Tod verloren. Wir verheizen ihn in unseren
Zentralheizungen und lassen uns Erdbeeren vom anderen Ende
der Welt in den Mund fliegen. Ist das Wohlstand? Ist das Luxus?
Vielleicht.
Wir haben aber auch den spirituellen Kontakt zum Tod verloren.
Immer mehr Menschen hauchen ihren Geist in klinischen Sterbezimmern
aus, ohne selbst jemals zuvor einen toten Körper gesehen
zu haben. Wir haben den Tod aus unserem Leben ausgeschlossen;
er findet nur noch im Fernsehen statt. Warum auch nicht?
Wir übersehen wohl gern dabei, dass es ohne Tod kein
Leben geben kann. Wer naturnah lebt, weiß nicht nur,
sondern fühlt auch, dass im Schoß des toten Winters
die Knospen heranwachsen, die den nächsten Frühling
aufbrechen lassen, wenn die Zeit für einen neuen Zyklus
reif ist. Frühere Generationen lebten inniger mit und
in der Natur. Es nimmt deshalb nicht Wunder, dass die nähende
Königin Gedanken an ein Kind hegt, wenn sie sich in die
Stille der tanzenden Schneeflocken hineinträumt. Sie
ist erfüllt von der Verbindung zur Großen Mutter
und ihrer Energie, die im Tode gebiert und im Leben verzehrt.
Ergriffen von diesem kosmischen Schauspiel und vielleicht
auch in Trance durch das Gefühl des Eingebettet-Seins
sticht sich die Königin in den Finger. Es fallen drei
Tropfen Blut in den Schnee. Ist die genaue Zahl Zufall?
Der moderne Geist, der stets verneint, fragt sich sogleich:
Wo ist da Schnee, in den das Blut vom Finger tropfen kann?
Hat Frau Königin Schnee in der Stube? Oder liegt sie
im tiefen Winter im offenen Fenster und hält ihre Handarbeit
ins Freie hinaus, damit das Blut in den Schnee tropfen kann?
So erkennt der rationale Geist, dass ihm hier nur Märchen
erzählt werden, die ihm Synonym für Lügengeschichten
sind. Symbole sind ihm suspekt, soweit sie über semiotische
Begrifflichkeiten hinausgehen und auf Erlebniswelten jenseits
der Physik verweisen.
Die Nadel, der Stich, das Blut und die Drei spielen in der
Ouvertüre dieses Märchens die symbolische Symphonie
spiritueller Sexualität: körperliche Liebe als die
hohe Zeit der Schöpfung neuen Lebens. Darauf zielt besonders
die Drei. Aus Eins und Eins wird Drei. Das ist das Wunder,
das mystische Geheimnis des Lebens.
Und um die zarte Anspielung auch gleich in die rechte spirituelle
Bahn zu lenken, wird die Drei noch einmal und mit doppeltem
Boden aufgegriffen: das Ebenholz, das Blut, der Schnee. Die
eine Ebene dieses Bildes sind die Materialien, die andere
ihre Farben.
Holz ist die Stofflichkeit des Baums. Im mystischen Sinn ist
es die prima materia, aus der alle Dinge geformt werden. Wenn
es zum Beispiel im Taittrirya Brahmana heißt: »Brahman
war das Holz; Brahman war der Baum, aus dem Himmel und Erde
gestaltet wurden«, dann steht das leblose Holz dem belebten
Baum gegenüber. Holz und Baum bilden als Tod und Leben
den Kreislauf der Schöpfung. Das entspricht auch der
schamanischen Vorstellung vom Weltenbaum, der in Wurzel, Stamm
und Krone Unterwelt, Menschenwelt und Oberwelt vereint. In
der chinesischen Symbolik ist Holz eines der acht Elemente
und steht unter Anderem für den Frühling, also den
Lebenskeim, das neues Leben Hervorbringende, das grüne
Holz.
Ebenholz ist etwas Besonderes. Es ist wertvoll, weil es von
weit her, aus den Tropen herangeschafft werden muss. Es ist
das Holz der Dattelpflaume und wird bereits im Alten Testament
und in zahlreichen Schriften der griechischen und römischen
Antike erwähnt. In der antiken Medizin wurde es auch
als Arzneimittel verwendet, zum Beispiel gegen Rheuma und
Gicht.
Hier muss es auch seiner schwarzen Färbung wegen Ebenholz
sein, denn Schwarz bildet mit den Farben der beiden anderen
Materialien einen bedeutenden Dreiklang.
Blut ist Leben. Mit dem Blut verliert der Körper seine
Lebenskraft. Frisches oder junges Blut hat verjüngende
Kraft. Blutsbande sind es auch, die Mitglieder einer Familie
verbinden.
Holz ist physisch, fest, männlich. Blut fließt,
muss fließen, um Leben zu erhalten oder Tod zu bringen.
Mit Blut auch verschreibt man dem Teufel seine Seele. Das
zeigt, dass die Seele dem Blut innewohnt. Die Qualität
des Bluts bedeutet das Wesen eines Menschen, zum Beispiel
wenn er blaues Blut hat oder kaltblütig ist.
Blut ist seelisch, ist fließend, weiblich. Weil es mit
dem Herzen verbunden ist, steht es auch in enger Verbindung
zu Liebe und Sexualität. Im Märchen sind die drei
Blutstropfen deshalb Symbol sexueller Reife, der Defloration
und der Empfängnis.
Blut ist rot. Rot ist das zum Leben erweckte Schwarz. Rot
ist die Vitalität, Aggressivität, Energie, Leidenschaft
und Erregung. Als Abbild des Feuers und Gegenbild zu Schwarz
wurde Rot zur Farbe des kraftvollen männlichen Lebens
und des Rechts. Die höchsten Richter tragen rote Roben.
Rot ist auch die Farbe der magischen Welt. Als Wodan zu Satan
christianisiert wurde, erbte der die rote Farbe. Rot-Weiß
symbolisiert den Urgegensatz männlich-weiblich. Beide
vereint bedeuten den irdischen, körperlichen, triebhaften
Aspekt der Liebe und den geistigen, mystischen, sehnsüchtigen
im kosmischen Einklang, in der Unio mystica.
Der Schnee ist weiß. Schnee ist geronnenes, erstarrtes,
zur geometrischen Ruhe gekommenes Wasser. Wenn sich die Lebenswärme
zurückzieht, bleibt der abstrakte Geist, die Struktur
und Intelligenz zurück. Schneekristalle zeigen uns das:
die perfekte, reine Ordnung, aber auch die unendliche Variationsvielfalt.
Wenn die Große Mutter, Frau Holle, die Betten (aus denen
sich das Leben wühlt) aufschüttelt, dann fallen
männlich, kalte, intelligente Schneeflocken vom Himmel,
um erwärmt als Wassertropfen die weibliche, warme, gefühlvolle
Erde zu befruchten.
Schnee ist transzendentes Leben, der Same, die Idee, aus dem
die individuelle Fülle der Formen und Wesen entsteht.
Seine weiße Farbe bedeutet Reinheit und spirituelle
Höhe. Weiß ist das geklärte, erhöhte,
absolute Leben.
Die Wahl der drei Attribute »so weiß wie der Schnee,
so roth wie das Blut, und so schwarz wie Ebenholz« ist
also keineswegs beliebig. In dieser Auswahl steckt eine tiefe
Wahrheit und Bedeutung.
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