Felix von Bonin: Das singende springende Löweneckerchen
Band 5
Felix von Bonin
Das singende springende Löweneckerchen
Liebe erlangen
Wie zwei ein Paar werden

96 Seiten
978-3-88755-235-0

EUR [D] 8,30

Der Mann ein Tier?

Sie wünscht sich ein Löweneckerchen, bekommt aber einen ausgewachsenen Löwen, einen so recht verwunschenen Prinzen. Ihre Liebe genießen sie im Schloss im Zauberwald, des Nachts. Tagsüber aber schlafen sie. Das klingt märchenhaft, doch ist es nicht das typische Bild jung Verliebter?
Wie wird aus diesem wilden Löwen ein liebevoller Mann? Wie wird aus der behüteten liebsten Tochter eine selbstbewusste Ehefrau?
Dieses Märchen zeigt, wie aus zwei Einzelnen ein Paar werden kann. Es zeigt den langen Weg dorthin und macht Mut, ihn zu gehen.

Trennung

Ein Vater bereitet sich auf eine große Reise vor und fragt seine drei Töchter zum Abschied, was er ihnen mitbringen soll. Der Mann erscheint uns reich und – warum auch immer – aufrichtig. Er kann es sich leisten, eine große Reise zu unternehmen, seine Töchter wünschen sich ganz selbstverständlich teure Geschenke und später erfahren wir auch noch, dass er von einem Diener begleitet wird.
Von einer Frau und Mutter wird uns nichts berichtet. Das scheint unerheblich, es geht also um die Beziehung des Vaters zu seinen drei Töchtern, um die Beziehung von Mann und Frau. Weil die beiden älteren Töchter jedoch auch nur Randfiguren sind, geht es also schließlich um die Beziehung des Vaters zu seiner (jüngsten) Tochter, denn die jüngste ist "sein liebstes Kind" und vom Schicksal dieser berichtet auch das Märchen.
Es scheint eine ganz besondere, innige Beziehung zwischen dem Vater und der jüngsten Tochter zu sein. Wir können uns vorstellen, dass die Mutter bereits gestorben ist und die jüngste Tochter dem Vater emotional die Partnerin ersetzt. Damit hat sie eine besondere, herausgehobene Rolle, die sie bei ihrer Jugend wohl aber auch etwas überfordern mag. Nun ist die Zeit gekommen, dass sich der Vater aus ihrem Leben zurückzieht, wenn auch zunächst nur vorübergehend, für die Zeit einer Reise, doch wir werden erleben, dass es eine Abtrennung für immer wird. Die Tochter muss sich aus der Symbiose mit dem Vater lösen. Ist sie reif dafür?
Vater und Töchtern fällt die Trennung nicht leicht. Die Frage, was er ihnen mitbringen soll, ist das indirekte Versprechen, Geschenke mitzubringen, und somit ein Unterpfand, auch wirklich zurückzukehren. Die beiden älteren Töchter sind lebenspraktisch und offensichtlich nicht mehr so stark an den Vater gebunden. Sie wünschen sich, was den Vater vor keine großen Probleme stellt, weil es leicht mit Geld zu erwerben ist: Perlen und Diamanten. Ihr Interesse ist auf weltliche Aspekte gerichtet, sie streben Wohlstand und Wohlleben an.
Die jüngste Tochter scheint uns verträumt. Sie erhält die Gelegenheit, ein schönes Geschenk zu ergattern, und wünscht sich doch ein "singendes springedes Löweneckerchen". Was in aller Welt ist das? Und was will sie damit?
Nun, dem liebenden Vater scheint das keine Frage zu sein. Er weiß, was gemeint ist, weiß aber auch um die Schwierigkeit, diesen Wunsch zu erfüllen. Deshalb antwortet er zurückhaltend: "Ja, wenn ich es kriegen kann, sollst du es haben." Vielleicht ist das der Grund, warum er aufrichtig erscheint: Er verspricht nichts, was er nicht sicher halten kann, drückt aber auch sein aufrichtiges Bemühen aus, alles Erdenkliche zu tun. Er ist glaubwürdig.
Wenn sich die älteren Töchter Wertgegenstände wünschen, so ist damit auch das Streben nach Unabhängigkeit ausgedrückt. Die jüngste ist noch ganz auf den Vater fixiert, der sie wirtschaftlich erhält, und wünscht sich etwas ›Nutzloses‹ Exotisches, etwas Lebendiges. Singen und Springen drückt Lebensfröhlichkeit aus, die Verkleinerungsform große Zärtlichkeit.
Eine Sehnsucht schwingt mit in diesem Eckerchen. Und der Vater zeigt sich bereit, diese Sehnsucht zu erfüllen, zweifelt aber, ob er das kann. Ahnt er, dass die Sehnsucht der Tochter über die Möglichkeiten eines Vaters hinausgeht? Weiß die Tochter, was sie sich wirklich wünscht, und dass ihr Vater diesen Wunsch niemals erfüllen kann?

Die Angst vor dem Löwen

Die teuren, aber schlichten Wünsche der erwachsenen Schwestern bereiten dem reichen Vater wenig Mühe. Er wird sie en passant auf irgendeinem Marktplatz freigekauft haben. Doch den seelentiefen Wunsch seiner jüngsten zu erfüllen, beschäftigt ihn während der gesamten Reise vergebens. Immer muss er an sie und ihren Wunsch denken, doch hat "er umsonst allerorten gesucht, und das tat ihm leid, denn sie war sein liebstes Kind".
Bereits auf der Rückreise, also jenseits der Hoffnung, kommt er durch einen Wald. Und mitten in diesem Wald – zu verwundern scheint ihn das nicht – steht ein prächtiges Schloss und dabei ein Baum, auf dessen Spitze er singend und springend ein Löweneckerchen entdeckt. Ei, was für eine Freude für einen Vater, der seine liebste Tochter nicht enttäuschen möchte.
Sein Diener ist flink genug, um auf den Baum zu steigen und den seltenen Vogel zu fangen. Doch er kommt nicht dazu, sein Können zu beweisen, weil ein Löwe aufspringt und das Löweneckerchen als sein eigen reklamiert. Er "schüttelte sich und brüllte, daß das Laub an den Bäumen zitterte" und machte sich auf, den Vater zu fressen. Der entschuldigt sich mit Nichtwissen, bittet um sein Leben und will sich mit Gold freikaufen, an dem es ihm nicht zu mangeln scheint. Doch der Löwe zeigt sich unerbittlich: "Dich kann nichts retten, als wenn du mir zu eigen versprichst, was dir daheim zuerst begegnet; willst du das aber tun, so schenke ich dir das Leben und den Vogel für deine Tochter obendrein."
Dieses Motiv finden wir in vielen Märchen wieder. Die meisten Väter* sind schnell bereit, dieses Versprechen zu geben, um ihre eigene Haut zu retten. Sie ahnen wohl, dass es nicht das Hündchen, das Kätzchen oder der Birnbaum hinter dem Haus sein wird, mit dem sie sich freikaufen, aber sie machen sich etwas vor. Sie verkaufen ihr Kind, meist ihre Tochter, und das heißt, dass sie schnell bereit sind, ihre eigenen ungelösten Lebensprobleme ihren Kindern aufzuhalsen.

* So auch die beiden Müller aus "Die Nixe im Teich", Band 6 dieser Reihe, und aus "Das Mädchen ohne Hände", Band 10; während der Müller in "Rumpelstilzchen", Band 13, seine schöne Tochter sogar ganz freiwillig an den goldgierigen König verschachert.

Nicht so dieser Vater. Er ist aufrichtig und macht sich nichts vor. Deshalb weiß er ganz genau, auf was er sich einlassen soll: "Das könnte meine jüngste Tochter sein, die hat mich am liebsten und läuft mir immer entgegen, wenn ich nach Haus komme." Ja, und dass der Löwe genau weiß, was er verlangt, das unterstellen wir hier wie in all den anderen Märchen auch.
Der Diener aber hat Angst und bedrängt seinen Herrn, es könnte ja doch "auch eine Katze oder ein Hund sein." Den Diener können wir, tiefenpsychologisch betrachtet, getrost als das Es, also das Unbewusstsein des Vaters interpretieren. Doch wie auch immer, der Mann lässt sich umstimmen, nimmt das singende springende Löweneckerchen und verspricht dem Löwen, was der verlangt.
Doch natürlich ist es seine jüngste Tochter, die ihm in Liebe freudig entgegenläuft, als er zuhause eintrifft. Der Vater kann die Freude der Tochter nicht erwidern. Er erzählt ihr, wie es sich zugetragen hat und äußert seine Befürchtung: "Wenn er dich hat, wird er dich zerreißen und fressen." Er bittet seine Tochter deshalb, komme was wolle, nicht zu dem Löwen zu gehen.
Der Vater bittet? Warum bittet er die Tochter? Das Versprechen hat doch er getan, das ist zunächst ganz allein seine Sache. Weil es seine Tochter betrifft, kann er ihr vorschlagen, auf Grund oder trotz seines Versprechens dies oder das zu tun. Wenn er sie aber bittet, dann muss sie längst eine Absicht haben und er bemüht sich, sie bittend doch noch umzustimmen.
Die Tochter hat sich ein Löweneckerchen gewünscht, doch sie akzeptiert, dass sie einen Löwen bekommt. Sie hat keine Angst vor dem Löwen, sie "will hingehen und will den Löwen schon besänftigen" und danach gesund zurückkommen.
Die Tochter hat romantische und lebensfremde Vorstellungen von der Liebe, die für sie in einem singenden springenden Löweneckerchen symbolisiert ist. Mit der Realität konfrontiert, akzeptiert sie den Löwen, ohne recht zu wissen, worauf sie sich einlässt. Sie erweitert ihre träumerische Vorstellung einfach auf ihn. Das ist die typische emotionalisierte Haltung eines pubertierenden Mädchens, wie wir sie heute zum Beispiel beobachten können, wenn Schulmädchen Popstars anhimmeln.
Scheinbar selbstsicher und zuversichtlich geht das Mädchen auf den Löwenmann zu. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass sie "die Jüngste" ist und sich eigentlich ein Löweneckerchen gewünscht hat, das possierlich singt und springt. Und wir dürfen unterstellen, dass sie keine konkreten Vorstellungen davon hat, was sie erwartet, auf was sie sich tatsächlich einlässt. In dieser Situation befinden sich viele junge Frauen, wenn sie eine Beziehung eingehen