Der Mann ein Tier?
Sie wünscht sich ein Löweneckerchen,
bekommt aber einen ausgewachsenen Löwen, einen so recht
verwunschenen Prinzen. Ihre Liebe genießen sie im Schloss
im Zauberwald, des Nachts. Tagsüber aber schlafen sie.
Das klingt märchenhaft, doch ist es nicht das typische
Bild jung Verliebter?
Wie wird aus diesem wilden Löwen ein liebevoller Mann?
Wie wird aus der behüteten liebsten Tochter eine selbstbewusste
Ehefrau?
Dieses Märchen zeigt, wie aus zwei Einzelnen ein Paar
werden kann. Es zeigt den langen Weg dorthin und macht Mut,
ihn zu gehen.
Trennung
Ein Vater bereitet sich auf eine große
Reise vor und fragt seine drei Töchter zum Abschied,
was er ihnen mitbringen soll. Der Mann erscheint uns reich
und warum auch immer aufrichtig. Er kann es
sich leisten, eine große Reise zu unternehmen, seine
Töchter wünschen sich ganz selbstverständlich
teure Geschenke und später erfahren wir auch noch, dass
er von einem Diener begleitet wird.
Von einer Frau und Mutter wird uns nichts berichtet. Das scheint
unerheblich, es geht also um die Beziehung des Vaters zu seinen
drei Töchtern, um die Beziehung von Mann und Frau. Weil
die beiden älteren Töchter jedoch auch nur Randfiguren
sind, geht es also schließlich um die Beziehung des
Vaters zu seiner (jüngsten) Tochter, denn die jüngste
ist "sein liebstes Kind" und vom Schicksal dieser
berichtet auch das Märchen.
Es scheint eine ganz besondere, innige Beziehung zwischen
dem Vater und der jüngsten Tochter zu sein. Wir können
uns vorstellen, dass die Mutter bereits gestorben ist und
die jüngste Tochter dem Vater emotional die Partnerin
ersetzt. Damit hat sie eine besondere, herausgehobene Rolle,
die sie bei ihrer Jugend wohl aber auch etwas überfordern
mag. Nun ist die Zeit gekommen, dass sich der Vater aus ihrem
Leben zurückzieht, wenn auch zunächst nur vorübergehend,
für die Zeit einer Reise, doch wir werden erleben, dass
es eine Abtrennung für immer wird. Die Tochter muss sich
aus der Symbiose mit dem Vater lösen. Ist sie reif dafür?
Vater und Töchtern fällt die Trennung nicht leicht.
Die Frage, was er ihnen mitbringen soll, ist das indirekte
Versprechen, Geschenke mitzubringen, und somit ein Unterpfand,
auch wirklich zurückzukehren. Die beiden älteren
Töchter sind lebenspraktisch und offensichtlich nicht
mehr so stark an den Vater gebunden. Sie wünschen sich,
was den Vater vor keine großen Probleme stellt, weil
es leicht mit Geld zu erwerben ist: Perlen und Diamanten.
Ihr Interesse ist auf weltliche Aspekte gerichtet, sie streben
Wohlstand und Wohlleben an.
Die jüngste Tochter scheint uns verträumt. Sie erhält
die Gelegenheit, ein schönes Geschenk zu ergattern, und
wünscht sich doch ein "singendes springedes Löweneckerchen".
Was in aller Welt ist das? Und was will sie damit?
Nun, dem liebenden Vater scheint das keine Frage zu sein.
Er weiß, was gemeint ist, weiß aber auch um die
Schwierigkeit, diesen Wunsch zu erfüllen. Deshalb antwortet
er zurückhaltend: "Ja, wenn ich es kriegen kann,
sollst du es haben." Vielleicht ist das der Grund, warum
er aufrichtig erscheint: Er verspricht nichts, was er nicht
sicher halten kann, drückt aber auch sein aufrichtiges
Bemühen aus, alles Erdenkliche zu tun. Er ist glaubwürdig.
Wenn sich die älteren Töchter Wertgegenstände
wünschen, so ist damit auch das Streben nach Unabhängigkeit
ausgedrückt. Die jüngste ist noch ganz auf den Vater
fixiert, der sie wirtschaftlich erhält, und wünscht
sich etwas Nutzloses Exotisches, etwas Lebendiges.
Singen und Springen drückt Lebensfröhlichkeit aus,
die Verkleinerungsform große Zärtlichkeit.
Eine Sehnsucht schwingt mit in diesem Eckerchen. Und der Vater
zeigt sich bereit, diese Sehnsucht zu erfüllen, zweifelt
aber, ob er das kann. Ahnt er, dass die Sehnsucht der Tochter
über die Möglichkeiten eines Vaters hinausgeht?
Weiß die Tochter, was sie sich wirklich wünscht,
und dass ihr Vater diesen Wunsch niemals erfüllen kann?
Die Angst vor dem Löwen
Die teuren, aber schlichten Wünsche
der erwachsenen Schwestern bereiten dem reichen Vater wenig
Mühe. Er wird sie en passant auf irgendeinem Marktplatz
freigekauft haben. Doch den seelentiefen Wunsch seiner jüngsten
zu erfüllen, beschäftigt ihn während der gesamten
Reise vergebens. Immer muss er an sie und ihren Wunsch denken,
doch hat "er umsonst allerorten gesucht, und das tat
ihm leid, denn sie war sein liebstes Kind".
Bereits auf der Rückreise, also jenseits der Hoffnung,
kommt er durch einen Wald. Und mitten in diesem Wald
zu verwundern scheint ihn das nicht steht ein prächtiges
Schloss und dabei ein Baum, auf dessen Spitze er singend und
springend ein Löweneckerchen entdeckt. Ei, was für
eine Freude für einen Vater, der seine liebste Tochter
nicht enttäuschen möchte.
Sein Diener ist flink genug, um auf den Baum zu steigen und
den seltenen Vogel zu fangen. Doch er kommt nicht dazu, sein
Können zu beweisen, weil ein Löwe aufspringt und
das Löweneckerchen als sein eigen reklamiert. Er "schüttelte
sich und brüllte, daß das Laub an den Bäumen
zitterte" und machte sich auf, den Vater zu fressen.
Der entschuldigt sich mit Nichtwissen, bittet um sein Leben
und will sich mit Gold freikaufen, an dem es ihm nicht zu
mangeln scheint. Doch der Löwe zeigt sich unerbittlich:
"Dich kann nichts retten, als wenn du mir zu eigen versprichst,
was dir daheim zuerst begegnet; willst du das aber tun, so
schenke ich dir das Leben und den Vogel für deine Tochter
obendrein."
Dieses Motiv finden wir in vielen Märchen wieder. Die
meisten Väter* sind schnell bereit, dieses Versprechen
zu geben, um ihre eigene Haut zu retten. Sie ahnen wohl, dass
es nicht das Hündchen, das Kätzchen oder der Birnbaum
hinter dem Haus sein wird, mit dem sie sich freikaufen, aber
sie machen sich etwas vor. Sie verkaufen ihr Kind, meist ihre
Tochter, und das heißt, dass sie schnell bereit sind,
ihre eigenen ungelösten Lebensprobleme ihren Kindern
aufzuhalsen.
* So auch die beiden Müller aus
"Die Nixe im Teich", Band 6 dieser Reihe, und aus
"Das Mädchen ohne Hände", Band 10; während
der Müller in "Rumpelstilzchen", Band 13, seine
schöne Tochter sogar ganz freiwillig an den goldgierigen
König verschachert.
Nicht so dieser Vater. Er ist aufrichtig
und macht sich nichts vor. Deshalb weiß er ganz genau,
auf was er sich einlassen soll: "Das könnte meine
jüngste Tochter sein, die hat mich am liebsten und läuft
mir immer entgegen, wenn ich nach Haus komme." Ja, und
dass der Löwe genau weiß, was er verlangt, das
unterstellen wir hier wie in all den anderen Märchen
auch.
Der Diener aber hat Angst und bedrängt seinen Herrn,
es könnte ja doch "auch eine Katze oder ein Hund
sein." Den Diener können wir, tiefenpsychologisch
betrachtet, getrost als das Es, also das Unbewusstsein des
Vaters interpretieren. Doch wie auch immer, der Mann lässt
sich umstimmen, nimmt das singende springende Löweneckerchen
und verspricht dem Löwen, was der verlangt.
Doch natürlich ist es seine jüngste Tochter, die
ihm in Liebe freudig entgegenläuft, als er zuhause eintrifft.
Der Vater kann die Freude der Tochter nicht erwidern. Er erzählt
ihr, wie es sich zugetragen hat und äußert seine
Befürchtung: "Wenn er dich hat, wird er dich zerreißen
und fressen." Er bittet seine Tochter deshalb, komme
was wolle, nicht zu dem Löwen zu gehen.
Der Vater bittet? Warum bittet er die Tochter? Das Versprechen
hat doch er getan, das ist zunächst ganz allein seine
Sache. Weil es seine Tochter betrifft, kann er ihr vorschlagen,
auf Grund oder trotz seines Versprechens dies oder das zu
tun. Wenn er sie aber bittet, dann muss sie längst eine
Absicht haben und er bemüht sich, sie bittend doch noch
umzustimmen.
Die Tochter hat sich ein Löweneckerchen gewünscht,
doch sie akzeptiert, dass sie einen Löwen bekommt. Sie
hat keine Angst vor dem Löwen, sie "will hingehen
und will den Löwen schon besänftigen" und danach
gesund zurückkommen.
Die Tochter hat romantische und lebensfremde Vorstellungen
von der Liebe, die für sie in einem singenden springenden
Löweneckerchen symbolisiert ist. Mit der Realität
konfrontiert, akzeptiert sie den Löwen, ohne recht zu
wissen, worauf sie sich einlässt. Sie erweitert ihre
träumerische Vorstellung einfach auf ihn. Das ist die
typische emotionalisierte Haltung eines pubertierenden Mädchens,
wie wir sie heute zum Beispiel beobachten können, wenn
Schulmädchen Popstars anhimmeln.
Scheinbar selbstsicher und zuversichtlich geht das Mädchen
auf den Löwenmann zu. Wir dürfen aber nicht vergessen,
dass sie "die Jüngste" ist und sich eigentlich
ein Löweneckerchen gewünscht hat, das possierlich
singt und springt. Und wir dürfen unterstellen, dass
sie keine konkreten Vorstellungen davon hat, was sie erwartet,
auf was sie sich tatsächlich einlässt. In dieser
Situation befinden sich viele junge Frauen, wenn sie eine
Beziehung eingehen
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