Felix von Bonin: Hänsel und Gretel
Band 1
Felix von Bonin
Hänsel und Gretel
Das ungeliebte Kind
Verwirrung der Gefühle
  
96 Seiten
978-3-88755-231-2
EUR [D] 8,30

Andere Märchenhelden ziehen mehr oder weniger freiwillig in die weite Welt, um ihr Glück zu suchen. Hänsel und Gretel aber werden regelrecht verstoßen, werden von ihren Eltern ausgesetzt. Und die treibende Kraft dabei ist ausgerechnet die eigene Mutter.
Warum ist dies eines unserer beliebtesten Märchen? Welches Drama zwischen Mutter und Kind wird uns hier vorgeführt, welche Lösung bietet das Märchen an und was können wir daraus lernen?
Zweifellos spielt die Hexe dabei eine Schlüsselrolle. Kein anderes Märchen wird so von der Figur der Hexe dominiert.

Empörend!

Wie schnell und wie gern empören wir uns. Über die Schwächen und Niedrigkeiten anderer natürlich. Erspart uns diese Empörung doch, genau hinzuhören und hinzuschauen, uns einzufühlen und uns selbst – auch und gerade mit unseren eigenen Schwächen – im Anderen wiederzuerkennen. Nein, diese Mutter, diese Rabenmutter muss geächtet werden! Will doch ihr eigen Fleisch und Blut im Wald bei den wilden Tieren aussetzen, um ihre Haut zu retten?
Und ach, der arme Mann, der sich so gar nicht gegen das böse Weib behaupten kann, der doch lieber den letzten Bissen mit seinen armen Kindern geteilt hätte. Dieser aufrechte Vater muss sich zum Handlanger der bösen Frau machen lassen. (Wieso muss er?) Da ist es doch nur recht, wenn er am Ende mit Perlen und Edelgestein überhäuft wird und es lapidar heißt: "Die Mutter aber war gestorben." Oder?
Alle Zeigefinger richten sich auf die Rabenmutter. Vor allem jener Mütter, die sich so ganz und selbstlos für ihre Kinder aufreiben, weil die es doch "einmal besser haben sollen". Und alle, die im gleichen Boot sitzen, klatschen heftig dazu. Doch heißt dieser prächtige Satz nicht im Klartext: "Mir geht es schlecht, und meine Kinder sollen verwirklichen, was mir nicht gelungen ist." Leider ein weit verbreitetes Ziel elterlicher Erziehung.
Ja, wenn diese schnelle Verurteilung der (Stief-) Mutter die ganze verlogene Moral von "Hänsel und Gretel" wäre, so könnte man gleich hier auch dieses Buch getrost zuklappen und zur nächstbesten Frauenzeitschrift greifen...

Die Stiefmutter

Nun wird es Zeit, die Frauen-, die Mutterrolle in diesem Märchen zu betrachten. Auch da sehen wir die entwicklungs-ehrlichere Darstellung in der Erst- und die gesellschaftlich-bequemere Verbrämung in der Letztausgabe (der Kinder und Hausmärchen). Ach und o, Wilhelm Grimm!
In der Erstausgabe ist durchgehend nur von der "Mutter" die Rede. Die Mutter betreibt die Aussetzung ihrer Kinder im Wald bei den wilden Tieren, scheinbar aus persönlichen Motiven. Scheinbar zumindest aus der kindlichen Sicht, aber auch der allgemeinen gesellschaftlichen – die sich damit als kindlich verrät.
Wer die tatsächliche Bedeutung des geschilderten Vorgangs, der thematisierten kindlichen Entwicklungsetappe nicht versteht, weil sie seine Einsicht überfordert, wird sich über die vordergründige Rabenmutter entsetzen, die anscheinend ihr Kind opfert, um die eigene Haut zu retten. Weil das eine ›ordentliche‹ Mutter nicht tut, macht sie Wilhelm Grimm zur Stiefmutter, die fortan nur noch als "die Frau" zitiert wird. Nein, wer will denn mit so einer etwas zu tun haben? Sie etwa?
Schauen wir uns die Frau, diese Mutter näher an. Wo der Mann jämmerlich und besorgt ist und mit seinen Mitteln (Holzhacken) nicht mehr weiter weiß, zeigt sie sich beherzt und aktiv. Sie spricht die Lage der Dinge, die ›Notlage‹ direkt an. Sie weiß, dass die Kinder aus dem Haus müssen – früher oder später. Wie lange sollen die Eltern sie denn ernähren?
Sie fordert den Vater, ihren Mann, auf, er solle die Kinder nehmen, ihnen ein Stück Brot geben und in den Wald (also hinaus ins Leben) führen, doch der Vater zeigt sich zu schwach, diesen männlichen Teil der Erziehung zu übernehmen, will lieber (mit den Kindern teilen und) sterben, das heißt auch, selbst kindlich bleiben. Schließlich führen sie die Kinder gemeinsam hinaus.
Wir sehen also eine schwache Vaterfigur und eine starke Mutter...