Andere
Märchenhelden ziehen mehr oder weniger freiwillig in
die weite Welt, um ihr Glück zu suchen. Hänsel und
Gretel aber werden regelrecht verstoßen, werden von
ihren Eltern ausgesetzt. Und die treibende Kraft dabei ist
ausgerechnet die eigene Mutter.
Warum ist dies eines unserer beliebtesten Märchen? Welches
Drama zwischen Mutter und Kind wird uns hier vorgeführt,
welche Lösung bietet das Märchen an und was können
wir daraus lernen?
Zweifellos spielt die Hexe dabei eine Schlüsselrolle.
Kein anderes Märchen wird so von der Figur der Hexe dominiert.
Empörend!
Wie schnell und wie gern empören
wir uns. Über die Schwächen und Niedrigkeiten anderer
natürlich. Erspart uns diese Empörung doch, genau
hinzuhören und hinzuschauen, uns einzufühlen und
uns selbst auch und gerade mit unseren eigenen Schwächen
im Anderen wiederzuerkennen. Nein, diese Mutter, diese
Rabenmutter muss geächtet werden! Will doch ihr eigen
Fleisch und Blut im Wald bei den wilden Tieren aussetzen,
um ihre Haut zu retten?
Und ach, der arme Mann, der sich so gar nicht gegen das böse
Weib behaupten kann, der doch lieber den letzten Bissen mit
seinen armen Kindern geteilt hätte. Dieser aufrechte
Vater muss sich zum Handlanger der bösen Frau machen
lassen. (Wieso muss er?) Da ist es doch nur recht, wenn er
am Ende mit Perlen und Edelgestein überhäuft wird
und es lapidar heißt: "Die Mutter aber war gestorben."
Oder?
Alle Zeigefinger richten sich auf die Rabenmutter. Vor allem
jener Mütter, die sich so ganz und selbstlos für
ihre Kinder aufreiben, weil die es doch "einmal besser
haben sollen". Und alle, die im gleichen Boot sitzen,
klatschen heftig dazu. Doch heißt dieser prächtige
Satz nicht im Klartext: "Mir geht es schlecht, und meine
Kinder sollen verwirklichen, was mir nicht gelungen ist."
Leider ein weit verbreitetes Ziel elterlicher Erziehung.
Ja, wenn diese schnelle Verurteilung der (Stief-) Mutter die
ganze verlogene Moral von "Hänsel und Gretel"
wäre, so könnte man gleich hier auch dieses Buch
getrost zuklappen und zur nächstbesten Frauenzeitschrift
greifen...
Die Stiefmutter
Nun wird es Zeit, die Frauen-, die
Mutterrolle in diesem Märchen zu betrachten. Auch da
sehen wir die entwicklungs-ehrlichere Darstellung in der Erst-
und die gesellschaftlich-bequemere Verbrämung in der
Letztausgabe (der Kinder und Hausmärchen). Ach und o,
Wilhelm Grimm!
In der Erstausgabe ist durchgehend nur von der "Mutter"
die Rede. Die Mutter betreibt die Aussetzung ihrer Kinder
im Wald bei den wilden Tieren, scheinbar aus persönlichen
Motiven. Scheinbar zumindest aus der kindlichen Sicht, aber
auch der allgemeinen gesellschaftlichen die sich damit
als kindlich verrät.
Wer die tatsächliche Bedeutung des geschilderten Vorgangs,
der thematisierten kindlichen Entwicklungsetappe nicht versteht,
weil sie seine Einsicht überfordert, wird sich über
die vordergründige Rabenmutter entsetzen, die anscheinend
ihr Kind opfert, um die eigene Haut zu retten. Weil das eine
ordentliche Mutter nicht tut, macht sie Wilhelm
Grimm zur Stiefmutter, die fortan nur noch als "die Frau"
zitiert wird. Nein, wer will denn mit so einer etwas zu tun
haben? Sie etwa?
Schauen wir uns die Frau, diese Mutter näher an. Wo der
Mann jämmerlich und besorgt ist und mit seinen Mitteln
(Holzhacken) nicht mehr weiter weiß, zeigt sie sich
beherzt und aktiv. Sie spricht die Lage der Dinge, die Notlage
direkt an. Sie weiß, dass die Kinder aus dem Haus müssen
früher oder später. Wie lange sollen die
Eltern sie denn ernähren?
Sie fordert den Vater, ihren Mann, auf, er solle die Kinder
nehmen, ihnen ein Stück Brot geben und in den Wald (also
hinaus ins Leben) führen, doch der Vater zeigt sich zu
schwach, diesen männlichen Teil der Erziehung zu übernehmen,
will lieber (mit den Kindern teilen und) sterben, das heißt
auch, selbst kindlich bleiben. Schließlich führen
sie die Kinder gemeinsam hinaus.
Wir sehen also eine schwache Vaterfigur und eine starke Mutter...
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