Felix von Bonin: Aschenputtel
Band 2
Felix von Bonin
Aschenputtel
Ausgeliefert und missachtet
Vom Zauber der Erotik
 
96 Seiten
978-3-88755-232-9
EUR [D] 8,30

Märchenprinz erlöst unterdrücktes Mädchen?

Weit gehfehlt! Aschenputtel wird zwar von ihren Schwestern gemobbt, doch sie ergeht sich nicht in der Opferrolle, sondern nimmt ihr Schicksal aktiv in die Hand. Die stolzen Schwestern sind bereit, sich zu verstümmeln, um eine gute Partie zu machen. Sie sind ganz auf den äußeren Schein fixiert. Aschenputtel geht bedacht vor und wirft sich nicht dem Prinzen an den Hals, um ihrem Schicksal zu entkommen: Denn sie kennt das Geheimnis der Erotik.

Der Tod der Mutter

Zu Beginn eines Märchens wird die Notlage exponiert, die der Erzählung Anlass ist. Die Not hier ist tiefgreifend und ergreifend. Einem Mädchen, dem einzigen Kind eines reichen Mannes, stirbt die Mutter. All der männliche, also äußere Reichtum verliert jeden Wert für dieses Kind, wenn die Quelle der Kraft, die Quelle des Lebens stirbt. Weiß der Mann, der bislang reiche Vater dieses Märchens, was er verliert?
Mit der Erstausgabe der Brüder Grimm von 1812/14 und der Ausgabe letzter Hand, die Wilhelm Grimm ganz allein zu vertreten hat, lesen wir zwei oberflächlich ähnliche, aber im Bedeutungskern doch recht unterschiedliche Mären. Vergleichen wir, wie die beiden Versionen in das Thema einsteigen.
Erstausgabe: Ein reicher Mann lebt lange vergnügt mit seiner Frau. Sie haben eine einzige Tochter zusammen. Dann wird die Frau aber krank. Sie ruft ihre Tochter zu sich und erklärt ihr, dass sie die materielle Ebene verlassen muss, aber von der himmlischen (geistigen) herab für sie sorgen wird. Zum Zweck der Kommunikation soll das Mädchen ein Bäumlein auf ihr Grab pflanzen. Dann verlässt sie ihren Körper, das Kind weint, pflanzt das Bäumchen und begießt es mit seinen Tränen.
Letztausgabe: Einem reichen Mann wird die Frau krank. Als sie ihr Ende herankommen fühlt, ruft sie ihre einzige Tochter zu sich und spricht: »Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.« Dann stirbt sie und das brave Mädchen geht jeden Tag an ihr Grab und weint.
Ich weiß nicht, was Wilhelm Grimm zu dieser Verarbeitung Anlass war, ich weiß auch nicht zu bewerten, ob er wirklich wusste, was er da verschob und verdrehte, aber die beiden Fassungen programmieren einen völlig verschiedenen Einstieg in eine Problematik, die wir heute Mobbing nennen würden, die aber offensichtlich viele Jahrtausende älter ist.
Was hat Wilhelm Grimm verändert? Besehen wir die Texte. Die Erstausgabe erzählt uns, dass der Mann vergnügt mit seiner Frau lebte, dass er (deswegen) reich war, und dass sie zusammen eine Tochter, eine weibliche Zukunft hatten. Doch dann wird die Mutter krank. Was hat sie krank gemacht? Egal, sie muss abtreten. Das Weibliche (dieses Familiensystems) wird sterben. Was ist die Botschaft an die Erbin, das Mädchen?
Die Botschaft der Mutter ist, ich muss mich zwar von der männlichen, materiellen Ebene zurückziehen, aber ich werde von der seelischen, weiblichen Ebene für dich sorgen. Um das zu ermöglichen, pflanze einen Baum, will sagen, verehre, hege und pflege die Natur.
Und mehr noch: Mythologisch steht der Baum für die Verbindung der drei Ebenen der Unter-, Menschen- und Oberwelt. Im Lebensbaum sind diese Sphären der Anderswelt zur Ganzheit des Seins vereint. Die Mutter, die den Gang in die Anderswelt antreten muss, weiht die Tochter ein, wie sie in Verbindung bleiben kann – nämlich über den Baum.
Letztausgabe: Einem reichen Mann wird die Frau krank. Ob sie vorher glücklich waren, scheint nicht wichtig. Sie muss sterben, muss weg, und ihrer einzigen Tochter sagt sie, der liebe (männliche) Gott würde ihr immer beistehen. Ende der Durchsage. Später erst wird der Vater auf eine Reise gehen und die drei Mädchen fragen, was er ihnen mitbringen soll. Ein Motiv, das hier implantiert werden musste, um den Vater zum Überbringer des Baums zu machen. Er bringt einen Haselreis mit, den das Mädchen aufs mütterliche Grab pflanzt, und dann wird ein göttlich-weißes Vögelchen kommen. O, ja.
In dieser Fassung stirbt die Mutter wirklich und anscheinend endgültig. Alles, was uns da noch Hoffnung lässt, ist die Einsicht, dass Wilhelm Grimm, um publikumserfolgreich zu sein, hier nichts als patriarchalisch-christliche Männerphantasien eingearbeitet hat, die sein Hausmütter-Publikum bereits frömmelnd verinnerlicht hatte und allein deswegen applaudierte (und die »Kinder- und Hausmärchen« kaufte).
Hält man beide Versionen nebeneinander – sie trennt ja fast ein halbes Jahrhundert – dann wird die Botschaft deutlich: Das mütterliche Prinzip als soziale Ordnung stirbt. Die nachfolgende Frau, das einzige Töchterlein, muss sich in der neuen, patriarchalen Ordnung arrangieren. Und dafür werden ihr und uns zwei ganz verschiedene Überlebensstrategien gezeigt. In der Erstausgabe, einen Baum zu pflanzen, also den realen Verlust auf der mentaler Ebene über die Huldigung der (weiblichen) Natur auf der geistigen zu erhalten; in der Letztausgabe, auf das männliche Prinzip zu hoffen und sich dafür notfalls ein Stück vom Fuß abzuschneiden.
Fällt es wirklich schwer, sich für eine Version zu entscheiden? Doch welche man auch wählen will, es ist immer zu fragen, wie auf den Wechsel von Matriarchat zu Patriarchat reagiert wird, welche Verhaltensimpulse dem künftigen Weiblichen (dem einzigen Töchterchen) gegeben werden. Und wer genau hinschaut, wird geradezu ehrfürchtig erkennen, mit welch literarisch dezentem Geschick Märchenerzähler die gesellschaftlichen Umwälzungen so verpackt haben, dass sich die aufgeweckte Zuhörerin ihren Reim daraus machen konnte, ohne dass der Zuhörer aufschreckte und ganz christlich zuschlug.
In der neuen, der männlichen Zeit, gibt es keine göttlichen Vorbilder mehr für die Frau. Die Muttergöttinnen sind gestürzt, Gottvater, Sohn und heiliger Geist sind durch und durch männlich. Die Frau, die sich weder als Maria noch als Magdalena herrlichem Diktat unterwerfen will, kann nicht anders, als in den esoterischen Untergrund abzutauchen. Dafür stempelt man sie dann als Hexe ab und verbrennt sie im reinigenden Feuer.
Zweitausend Jahre später steigt das Weibliche aus diesem Untergrund wieder auf, belebt die Naturreligionen, beweint den Missbrauch von Mutter Natur durch den herrlichen, göttlichen Männermann und richtet das Auge auf eine Zukunft, die so lieblos, leblos, starr nicht organisiert bleiben kann, wenn sie – und wir mit ihr – überleben soll.