Märchenprinz
erlöst unterdrücktes Mädchen?
Weit
gehfehlt! Aschenputtel wird zwar von ihren Schwestern gemobbt,
doch sie ergeht sich nicht in der Opferrolle, sondern nimmt
ihr Schicksal aktiv in die Hand. Die stolzen Schwestern sind
bereit, sich zu verstümmeln, um eine gute Partie zu machen.
Sie sind ganz auf den äußeren Schein fixiert. Aschenputtel
geht bedacht vor und wirft sich nicht dem Prinzen an den Hals,
um ihrem Schicksal zu entkommen: Denn sie kennt das Geheimnis
der Erotik.
Der Tod der Mutter
Zu Beginn eines Märchens wird
die Notlage exponiert, die der Erzählung Anlass ist.
Die Not hier ist tiefgreifend und ergreifend. Einem Mädchen,
dem einzigen Kind eines reichen Mannes, stirbt die Mutter.
All der männliche, also äußere Reichtum verliert
jeden Wert für dieses Kind, wenn die Quelle der Kraft,
die Quelle des Lebens stirbt. Weiß der Mann, der bislang
reiche Vater dieses Märchens, was er verliert?
Mit der Erstausgabe der Brüder Grimm von 1812/14 und
der Ausgabe letzter Hand, die Wilhelm Grimm ganz allein zu
vertreten hat, lesen wir zwei oberflächlich ähnliche,
aber im Bedeutungskern doch recht unterschiedliche Mären.
Vergleichen wir, wie die beiden Versionen in das Thema einsteigen.
Erstausgabe: Ein reicher Mann lebt lange vergnügt mit
seiner Frau. Sie haben eine einzige Tochter zusammen. Dann
wird die Frau aber krank. Sie ruft ihre Tochter zu sich und
erklärt ihr, dass sie die materielle Ebene verlassen
muss, aber von der himmlischen (geistigen) herab für
sie sorgen wird. Zum Zweck der Kommunikation soll das Mädchen
ein Bäumlein auf ihr Grab pflanzen. Dann verlässt
sie ihren Körper, das Kind weint, pflanzt das Bäumchen
und begießt es mit seinen Tränen.
Letztausgabe: Einem reichen Mann wird die Frau krank. Als
sie ihr Ende herankommen fühlt, ruft sie ihre einzige
Tochter zu sich und spricht: »Liebes Kind, bleib fromm
und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich
will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.«
Dann stirbt sie und das brave Mädchen geht jeden Tag
an ihr Grab und weint.
Ich weiß nicht, was Wilhelm Grimm zu dieser Verarbeitung
Anlass war, ich weiß auch nicht zu bewerten, ob er wirklich
wusste, was er da verschob und verdrehte, aber die beiden
Fassungen programmieren einen völlig verschiedenen Einstieg
in eine Problematik, die wir heute Mobbing nennen würden,
die aber offensichtlich viele Jahrtausende älter ist.
Was hat Wilhelm Grimm verändert? Besehen wir die Texte.
Die Erstausgabe erzählt uns, dass der Mann vergnügt
mit seiner Frau lebte, dass er (deswegen) reich war, und dass
sie zusammen eine Tochter, eine weibliche Zukunft hatten.
Doch dann wird die Mutter krank. Was hat sie krank gemacht?
Egal, sie muss abtreten. Das Weibliche (dieses Familiensystems)
wird sterben. Was ist die Botschaft an die Erbin, das Mädchen?
Die Botschaft der Mutter ist, ich muss mich zwar von der männlichen,
materiellen Ebene zurückziehen, aber ich werde von der
seelischen, weiblichen Ebene für dich sorgen. Um das
zu ermöglichen, pflanze einen Baum, will sagen, verehre,
hege und pflege die Natur.
Und mehr noch: Mythologisch steht der Baum für die Verbindung
der drei Ebenen der Unter-, Menschen- und Oberwelt. Im Lebensbaum
sind diese Sphären der Anderswelt zur Ganzheit des Seins
vereint. Die Mutter, die den Gang in die Anderswelt antreten
muss, weiht die Tochter ein, wie sie in Verbindung bleiben
kann nämlich über den Baum.
Letztausgabe: Einem reichen Mann wird die Frau krank. Ob sie
vorher glücklich waren, scheint nicht wichtig. Sie muss
sterben, muss weg, und ihrer einzigen Tochter sagt sie, der
liebe (männliche) Gott würde ihr immer beistehen.
Ende der Durchsage. Später erst wird der Vater auf eine
Reise gehen und die drei Mädchen fragen, was er ihnen
mitbringen soll. Ein Motiv, das hier implantiert werden musste,
um den Vater zum Überbringer des Baums zu machen. Er
bringt einen Haselreis mit, den das Mädchen aufs mütterliche
Grab pflanzt, und dann wird ein göttlich-weißes
Vögelchen kommen. O, ja.
In dieser Fassung stirbt die Mutter wirklich und anscheinend
endgültig. Alles, was uns da noch Hoffnung lässt,
ist die Einsicht, dass Wilhelm Grimm, um publikumserfolgreich
zu sein, hier nichts als patriarchalisch-christliche Männerphantasien
eingearbeitet hat, die sein Hausmütter-Publikum bereits
frömmelnd verinnerlicht hatte und allein deswegen applaudierte
(und die »Kinder- und Hausmärchen« kaufte).
Hält man beide Versionen nebeneinander sie trennt
ja fast ein halbes Jahrhundert dann wird die Botschaft
deutlich: Das mütterliche Prinzip als soziale Ordnung
stirbt. Die nachfolgende Frau, das einzige Töchterlein,
muss sich in der neuen, patriarchalen Ordnung arrangieren.
Und dafür werden ihr und uns zwei ganz verschiedene Überlebensstrategien
gezeigt. In der Erstausgabe, einen Baum zu pflanzen, also
den realen Verlust auf der mentaler Ebene über die Huldigung
der (weiblichen) Natur auf der geistigen zu erhalten; in der
Letztausgabe, auf das männliche Prinzip zu hoffen und
sich dafür notfalls ein Stück vom Fuß abzuschneiden.
Fällt es wirklich schwer, sich für eine Version
zu entscheiden? Doch welche man auch wählen will, es
ist immer zu fragen, wie auf den Wechsel von Matriarchat zu
Patriarchat reagiert wird, welche Verhaltensimpulse dem künftigen
Weiblichen (dem einzigen Töchterchen) gegeben werden.
Und wer genau hinschaut, wird geradezu ehrfürchtig erkennen,
mit welch literarisch dezentem Geschick Märchenerzähler
die gesellschaftlichen Umwälzungen so verpackt haben,
dass sich die aufgeweckte Zuhörerin ihren Reim daraus
machen konnte, ohne dass der Zuhörer aufschreckte und
ganz christlich zuschlug.
In der neuen, der männlichen Zeit, gibt es keine göttlichen
Vorbilder mehr für die Frau. Die Muttergöttinnen
sind gestürzt, Gottvater, Sohn und heiliger Geist sind
durch und durch männlich. Die Frau, die sich weder als
Maria noch als Magdalena herrlichem Diktat unterwerfen will,
kann nicht anders, als in den esoterischen Untergrund abzutauchen.
Dafür stempelt man sie dann als Hexe ab und verbrennt
sie im reinigenden Feuer.
Zweitausend Jahre später steigt das Weibliche aus diesem
Untergrund wieder auf, belebt die Naturreligionen, beweint
den Missbrauch von Mutter Natur durch den herrlichen, göttlichen
Männermann und richtet das Auge auf eine Zukunft, die
so lieblos, leblos, starr nicht organisiert bleiben kann,
wenn sie und wir mit ihr überleben soll.
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